Omar Kamil, Der Holocaust im arabischen Gedächtnis

January 7, 2017 | Author: Frank Kerner | Category: N/A
Share Embed Donate


Short Description

1 2 3 SIMON-DUBNOW-INSTITUT FÜR JÜDISCHE GESCHICHTE UND KULTUR Schriften des Simon-Dubnow-Instituts Herausgege...

Description

Omar Kamil, Der Holocaust im arabischen Gedächtnis

© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369937 — ISBN E-Book: 9783647369938

Omar Kamil, Der Holocaust im arabischen Gedächtnis

S IMON -D UBNOW-I NSTITUT FÜR JÜDISCHE G ESCHICHTE UND K ULTUR

Schriften des Simon-Dubnow-Instituts Herausgegeben von Dan Diner Band 15

© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369937 — ISBN E-Book: 9783647369938

Omar Kamil, Der Holocaust im arabischen Gedächtnis

Omar Kamil

Der Holocaust im arabischen Gedächtnis Eine Diskursgeschichte 1945–1967

Vandenhoeck & Ruprecht

© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369937 — ISBN E-Book: 9783647369938

Omar Kamil, Der Holocaust im arabischen Gedächtnis

Für Judith, Sarah, Laila und Amira

Lektorat: Jörg Später, Freiburg i. Br. Mit drei Abbildungen Umschlagabbildung: Jean-Paul Sartre, Gamal Abd an-Nasser, Simone de Beauvoir und Claude Lanzmann in Kairo, 1967. © Bibliotheca Alexandrina, Memory of Modern Egypt. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-36993-7 ISBN 978-3-647-36993-8 (E-Book)

Gedruckt mit Unterstützung des Freistaates Sachsen und gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft

© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. – Printed in Germany. Satz: Dörlemann Satz, Lemförde Druck und Bindung: Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369937 — ISBN E-Book: 9783647369938

Omar Kamil, Der Holocaust im arabischen Gedächtnis

5

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Quellenbasis und Untersuchungszeitraum (15) – Araber und Holocaust – eine Forschungsgeschichte (23) – Islamische Wahrnehmung (26) – Die Wirkung der europäischen Moderne (31) – Nahostkonflikt (35) 1. Toynbee in Montreal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

47

Vorgeschichte (47) – Juden und Araber (50) – Der Gang der Weltgeschichte (52) – Streitgespräch (57) – Arabische Rezeption (66) – Toynbee in Kairo (71) – Eichmann in Kuwait (72) – Widerstreitende Schicksale (80) 2. Sartre in Kairo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

87

Philosophie und Engagement (87) – Betrachtungen zur Judenfrage (89) – Koloniale Erfahrung (90) – Palästinafrage (97) – Sartre und die Araber (101) – Gescheitertes Gespräch (112) – Sartre in Israel (117) – Vom Ende einer Utopie (119) 3. Rodinson in Beirut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Libanon 1967 (128) – Molière in Tripoli (131) – Palästina und Auschwitz (134) – Araber und »jüdische Frage« (137) – Marx auf Arabisch (141) – Widerstreitende Erzählungen (159) Schlussbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Hinweise zur Transkription . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172

© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369937 — ISBN E-Book: 9783647369938

Omar Kamil, Der Holocaust im arabischen Gedächtnis

6

Inhalt

Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Taha Hussain Von Kairo nach Beirut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Jawwad Ali Toynbee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 Muhammed Tawfiq Hussain Arnold Toynbee. Der Fürsprecher der Araber im Westen . . . . . . . . . . . . . . . 182 Kamil Zuhairy Jean-Paul Sartre und die jüdische Frage . . . . . . . . . . . . . . 189 Dawud Talhami Sartre und die Palästinafrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Lutfi al-Khouli Maxime Rodinson in Kairo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Quellen und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235

© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369937 — ISBN E-Book: 9783647369938

Omar Kamil, Der Holocaust im arabischen Gedächtnis

7

Vorwort

Das vorliegende Buch ist die bearbeitete Fassung meiner Habilitationsschrift zur arabischen Rezeption des Holocaust. Sie wurde im Rahmen meiner Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter des Simon-Dubnow-Instituts für jüdische Geschichte und Kultur an der Universität Leipzig verfasst und an der Fakultät für Sozialwissenschaften und Philosophie der Universität Leipzig eingereicht. Gutachter waren Dan Diner und Wolfgang Fach aus Leipzig sowie Christoph Schumann von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Allen drei Professoren gebührt mein besonderer Dank. Zahlreiche Personen und Institutionen haben mein Forschungsprojekt unterstützt und ermöglichten so die Entstehung dieser Arbeit. Ihnen allen bin ich dankbar für ihr Interesse, ihre Anregungen und die Förderung meiner Forschung. Dieser Dank gilt an erster Stelle Dan Diner, Direktor des Simon-Dubnow-Instituts, als meinem akademischen Lehrer und Wegweiser, der mein Forschungsvorhaben von Anbeginn mit Rat, Engagement und Geduld begleitet hat. Durch unsere Gespräche wandelte sich meine zunächst stärker auf den arabisch-israelischen Konflikt fokussierte Analyse der arabischen Wahrnehmung des Holocaust zu einem ideengeschichtlichen Erklärungs- und Deutungsansatz, der Zusammenhänge dort aufzeigt, wo sich arabisch-islamische, jüdische und europäische Geschichte und Geschichtserfahrungen überschneiden. Für großzügige Hinweise, motivierende Impulse und erkenntnisleitende Anregung bleibe ich Dan Diner tief verbunden. Für die Förderung meiner Forschung und der anschließenden Drucklegung der Arbeit möchte ich der Deutschen Forschungsgemeinschaft besonders danken, die mein Habilitationsprojekt drei Jahre lang unterstützt hat. In besonderer Weise bin ich Susanne Zepp, stellvertretende Direktorin des Simon-Dubnow-Instituts und Professorin an der Freien Universität Berlin, zu Dank verpflichtet. Sie unterstützte mich bei fachlichen und logistischen Herausforderungen und gewährleistete ideale Forschungsbedingungen im Institut. Ihre Tür stand mir stets offen, für wissenschaftlichen und freundschaftlichen Rat bin ich ihr tief verbunden. Mein besonderer Dank gilt dem Lektor der Arbeit, Jörg Später, für die thematische Begleitung und fortwährende Unterstützung während des Entstehens der Arbeit sowie André Zimmermann, der dem Manuskript den letzten Schliff gab. Ohne ihren Beitrag wäre die Publikation dieser Arbeit so nicht möglich gewesen. Besonders hervorheben möchte ich auch das Engagement von Petra Klara Gamke-Breitschopf, die die Drucklegung der Arbeit geleitet

© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369937 — ISBN E-Book: 9783647369938

Omar Kamil, Der Holocaust im arabischen Gedächtnis

8

Vorwort

und mit ihrer Genauigkeit zu deren Gelingen beigetragen hat; dafür danke ich ihr ganz herzlich. Ein besonderer Dank gilt ferner Yvonne Albers für ihr sorgsames Korrekturlesen des Manuskripts und Lina Bosbach für die abschließende Durchsicht der Druckfahnen. Die produktive und freundschaftliche Atmosphäre am Simon-DubnowInstitut trug entscheidend zur Entstehung dieser Arbeit bei. Für alle Anregungen, für ihr Interesse und die Hilfsbereitschaft danke ich den Institutsangehörigen, insbesondere Nicolas Berg, Arndt Engelhardt, Lutz Fiedler, Walid Abd el-Gawad, Jan Gerber und Natasha Gordinsky. Für die Unterstützung im Bereich der Wissenschaftsorganisation, bei Dienstreisen, Archivund Bibliotheksaufenthalten sowie der Beschaffung von Literatur und Quellen, danke ich Natalia Engelmann, Mandy Fitzpatrick, Marion Hammer, Vicky Sorge, Nicole Petermann und Grit N. Scheffer. Danken möchte ich auch Sadik Jalal al-Azm, Dawud Talhami, Georges Tarabishi und Ibrahim al-Jabin für ihre wertvollen Anregungen sowie den Mitarbeitern der Bibliotheken der Amerikanischen Universität in Kairo und in Beirut, die meine Forschungsarbeit durch ihre beständige Unterstützung erleichtert haben. Besonderen Dank schulde ich Issam Ayyad in Beirut, der mir den Zugang zur Spezialliteratur aus den 1960er Jahren ermöglicht hat. Für ihre Geduld und ihren Rückhalt danke ich meiner Familie, der dieses Buch gewidmet ist. Omar Kamil

Leipzig/Heidelberg, im Juni 2012

© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369937 — ISBN E-Book: 9783647369938

Omar Kamil, Der Holocaust im arabischen Gedächtnis Einleitung

9

Einleitung

Im Jahr 1946 reiste der bedeutende ägyptische Gelehrte und Politiker Taha Hussain (1889–1973) von Alexandria nach Beirut.1 Dabei legte das Schiff für wenige Stunden in Haifa an. Der kurze Aufenthalt scheint Hussain in einer Weise beeindruckt zu haben, von der er auch dem arabischen Leser berichten wollte: Nach Kairo zurückgekehrt, schrieb er einen Artikel über jene Reise und gab dabei seinen Erlebnissen in Haifa besonderen Raum.2 Taha Hussain schilderte zwei Szenen. In der ersten stellte er dar, wie er die Ankunft von Überlebenden des Holocaust im Hafen von Haifa wahrgenommen hatte: »Geschwächte jüdische Einwanderer: Kinder und Knaben, die die Pubertät noch nicht erreicht hatten, und Frauen, denen schweres Leid zugefügt worden war. Einige von ihnen hatten alles verloren und sich nur noch eine leise Hoffnung bewahrt, die sich in einem traurigen Lächeln auf ihren Lippen zeigte. Andere trugen in sich einen Lebenswillen, der in ihren unglücklichen Herzen Hoffnung und Hoffnungslosigkeit, Zufriedenheit und Verbitterung, Vergnügen und Schmerzen hervorrief. […] In Palästina suchen sie nach Sicherheit und Schutz.«3

Die zweite Szene beschreibt die Reaktion der arabischen Bewohner von Haifa auf die Ankunft der jüdischen Flüchtlinge: »Diese Elenden stiegen in disziplinierter Weise aus dem Schiff aus, sangen Lieder mit ihren geschwächten leidgeprüften Stimmen […]. Spiegelt ihr Singen Freude und Glückseligkeit über einen Sieg? Oder spiegelt es ihren Kummer, ihre Not und die Niederlage der Vertriebenen? Oder bedeutet es beides gleichermaßen? Ich weiß es nicht! Ich weiß nur, dass ihr Singen die Seelen [der arabischen Bewohner Palästinas] mit Wut und Zorn, aber auch mit Mitleid und Erbarmen erfüllte.«4

Taha Hussain verband seine Beobachtung mit einer Kritik an den westlichen Mächten, deren Politik zur Eskalation des Konfliktes zwischen Juden und Arabern geführt habe: »Die britischen Soldaten, mit Waffen gerüstet, demonstrierten ihre Macht und schützten den Hafen von Haifa, um die Ankunft dieser erbärmlichen Flüchtlinge zu sichern […]. Es war eine Szene, die sogar bei den Arbeitern auf dem Schiff Wut hervorrief; sie kritisierten die Übermacht der Alliierten, die ein französisches Schiff für ein Anliegen 1 Über die Bedeutung Taha Hussains für die arabische Ideengeschichte vgl. Cachia, Taha Husayn, 45–67. 2 Hussain, min al-q¯ahira il¯a bayr¯ut [Von Kairo nach Beirut]. 3 Ebd., 10f. 4 Ebd., 10.

© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369937 — ISBN E-Book: 9783647369938

Omar Kamil, Der Holocaust im arabischen Gedächtnis

10

Einleitung

einsetzen, das bei den arabischen Bewohnern Zorn und Unmut schürt. Ist Frankreich nicht dazu verurteilt, sich den Siegermächten England und USA unterzuordnen, um politisch überleben zu können?«5

Mag diese Beschreibung der Geschehnisse im Hafen von Haifa zunächst wie eine bloße Momentaufnahme erscheinen, so ist ihre historische Bedeutung doch für die Erforschung arabischer Reaktionen auf den Holocaust wesentlich, denn sie enthält im Kern jene widerstrebenden Positionen, die sich später ausbilden und nachhaltig verfestigen sollten. 1946 lag Europa in Trümmern, und es war das vornehmliche Interesse der beteiligten Nationen, die unmittelbaren Kriegsschäden zu beseitigen. Weder die jüngste Vergangenheit – der Massenmord an den europäischen Juden – noch die Konsequenzen des Krieges für die Kolonien gelangten ins Bewusstsein der europäischen Nationen. Erst vor diesem Horizont wird die Bedeutung des Essays von Taha Hussain offenbar: Hussain führte bereits zu einem frühen Zeitpunkt jene unterschiedlichen, jedoch eng mit dem Zweiten Weltkrieg verbundenen Ereignisse zusammen, die für den entstehenden Konflikt wesentlich werden sollten: Holocaust und Palästinafrage. Hussains Beschreibungen aus dem Jahr 1946 sind ausgewogen, ja unparteiisch; vom Mitgefühl für die Holocaustüberlebenden geprägt, aber zugleich von Verständnis für die arabischen Bewohner der Stadt Haifa. Eigentliche Botschaft dieser ägyptischen Perspektive auf die Ereignisse war jedoch eine Anklage gegen das, was Europa mit Holocaust und Kolonialpolitik Juden und Arabern angetan hatte. Darüber hinaus markiert der Text von Taha Hussain auch eine gedächtnistheoretische Konstellation: Kann eine arabische Auseinandersetzung mit dem Holocaust nur im Zusammenhang mit der Palästinafrage verstanden werden? Die bisherige Forschung über die Araber und den Holocaust bejaht dies.6 Zwei Forschungsansätze haben sich dabei etabliert: ein Deutungsmodell rückt die Kollaboration arabischer Nationalisten mit Nazi-Deutschland in den Vordergrund und hebt dabei den palästinensischen Mufti Amin al-Hussaini (1893–1974) als eine wichtige handelnde Figur hervor. Der zweite Ansatz dagegen macht das Verhältnis der Araber zum Holocaust vom Verlauf des arabisch-israelischen Konfliktes abhängig. Im ersten Ansatz zeichnete sich eine Kontroverse über die Rolle von Amin al-Hussaini ab. Der amerikanische Historiker Jeffrey Herf hat in einer 2009 erschienenen Studie die Nazi-Propaganda in der arabischen Welt untersucht und sich dabei insbesondere auf die judenfeindlichen Reden von Amin al-Hussaini konzentriert.7 Als sich Mitte der 1930er Jahre der Plan zur Teilung Palästinas in einen jüdi5 Ebd. 6 Eine detaillierte Darstellung des Stands der Forschung erfolgt im letzten Teil dieser Einleitung: »Die Araber und der Holocaust – eine Forschungsgeschichte«. 7 Herf, Nazi Propaganda for the Arab World.

© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369937 — ISBN E-Book: 9783647369938

Omar Kamil, Der Holocaust im arabischen Gedächtnis Einleitung

11

schen und einen arabischen Staat abzuzeichnen begann, hatte der Mufti öffentlich seine Solidarität mit den Nationalsozialisten erklärt, verbunden mit der Bitte an die Deutschen, sich gegen die Errichtung eines jüdischen Staates und für eine umgehende Beendigung der jüdischen Zuwanderung auszusprechen. Herf interpretiert diese Verbindungslinie zwischen Hitler und Amin al-Hussaini nicht nur als Zusammenarbeit, sondern als eine Fusion von arabischem Nationalismus und nationalsozialistischer Ideologie, die im Judenhass ihre Schnittmenge fanden. Die Juden in Palästina standen demnach vor der Gefahr eines Genozids.8 Der zweite Forschungsansatz konzentriert sich ebenfalls auf das Verhältnis arabischer Nationalisten zum Nationalsozialismus im Zusammenhang mit der Palästinafrage, jedoch mit entgegengesetzten Resultaten. Ein Beispiel hierfür ist der vom Zentrum Moderner Orient herausgegebene Band Blind für die Geschichte?, in dem die Orientwissenschaftler Gerhard Höpp, Peter Wien und René Wildangel Arabische Begegnungen mit dem Nationalsozialismus darstellen.9 Die Autoren verneinen zwar nicht die Tendenz arabischer Nationalisten zur Kollaboration mit den Nationalsozialisten, sie sehen jedoch in der Haltung al-Hussainis – und anderer arabischer Persönlichkeiten – zum Nationalsozialismus eher den Zweckopportunismus eines Politikers, der, wie andere arabische Politiker auch, am wahren Charakter des Naziregimes nicht ernsthaft interessiert war. Die Bereitschaft der arabischen Nationalisten zur Kollaboration mit dem Nationalsozialismus wird von den Autoren auf ein rein politisch-patriotisches Interesse zurückgeführt, das sich im Grunde gegen die Kolonialmacht England und die Zionisten richtete.10 Der Streit um eine angemessene Deutung der Rolle des Muftis dauert an.11 Doch jenseits von Schuld oder partiellem Freispruch hinsichtlich der historischen Figur Amin al-Hussaini ist erneut die Frage zu stellen: Kann eine Stu8 Die Deutungslinie von Jeffrey Herf ist auch nachzuvollziehen in Mallmann/Cüppers (Hgg.), Halbmond und Hakenkreuz, sowie in den populärwissenschaftlichen Schriften des Publizisten und Politologen Matthias Küntzel, insbesondere Von Zeesen bis Beirut sowie Djihad und Judenhass. Vgl. auch Gensicke, Der Mufti von Jerusalem. 9 Höpp/Wien/Wildangel (Hgg.), Blind für die Geschichte? 10 Ebd., 9–11. Diese Deutungs- und Erklärungslinie hat ihre Tradition insbesondere in der Islamwissenschaft und ist bei folgenden Autoren zu finden: Schölch, Das Dritte Reich; Steppert, Das Jahr 1933 und seine Folgen für die arabischen Länder des Vorderen Orients; Höpp, Araber im Zweiten Weltkrieg; ders., Der Gefangene im Dreieck; ders. (Hg.), MuftiPapiere; Flores, Judeophobia in Context. 11 Vgl. dazu die Kritik des amerikanischen Historikers Richard Wolin an Herfs Nazi Propaganda for the Arab World: Ders., Herf ’s Misuses of History, sowie die daraus entstandene und online geführte Debatte: Wolin/Herf, »Islamo-Fascism«; ebenfalls der Streit um die Rolle des Muftis zwischen Jeffrey Herf und dem libanesischen Politologen Gilbert Achcar in einem amerikanischen Politmagazin: Herf, Not in Moderation; die Reaktion darauf: Achcar, Arabs and the Holocaust. A Response; die Antwort von Herf: ders., Arabs and the Holocaust, Continued.

© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369937 — ISBN E-Book: 9783647369938

Omar Kamil, Der Holocaust im arabischen Gedächtnis

12

Einleitung

die über das Verhältnis arabischer Nationalisten zum Nationalsozialismus in den 1930er und 1940er Jahren zur Klärung arabischer Wahrnehmung des Holocaust beitragen? Aus Sicht dieser Arbeit fällt die Antwort negativ aus. Solche Forschungsansätze können nicht zu einer ausgewogenen Sicht gelangen, weil ihre Fragestellung sie dazu zwingt, entweder die ersten arabischen Reaktionen auf den Genozid an den Juden als unmittelbar und unzweifelhaft faschistisch zu verstehen, oder umgekehrt zu versuchen, die arabischen Reaktionen von Mittäterschaft freizusprechen und die Araber – wiederum verallgemeinernd und verklärend – als eine Art »Gerechte unter den Völkern« zu präsentieren, die während des Zweiten Weltkriegs jüdisches Leben gerettet haben.12 Diese Studien sind sicherlich dazu geeignet, nachvollziehbar zu machen, warum einige arabische Intellektuelle der Ideologie des Nationalsozialismus begeistert anhingen, während ihre große Mehrheit von Casablanca über Kairo bis nach Beirut Hitler verachtete.13 Im Gegensatz hierzu will die vorliegende Studie nicht erneut verallgemeinernde Perspektiven aufrufen, sondern die arabische Wahrnehmung des Holocaust als »historischer Ausnahmefall«, als Zivilisationsbruch in der Menschheitsgeschichte untersuchen. Ein angemessenes Verständnis der Ereignisse war in Europa nach dem Krieg nicht vorhanden. 1945 erschien der Holocaust vielen Europäern als ein tragisches, aber schließlich doch zweitrangiges Ereignis angesichts der allgegenwärtigen Zerstörung. Entsprechend rückt die vorliegende Studie die bislang in diesem Zusammenhang immer wieder aufgerufene Debatte um den Mufti von Palästina eher in den Hintergrund, sie stellt jedoch erneut die Frage nach dem Zeithorizont der Reaktionen arabischer Intellektueller auf den Holocaust. Dies bedeutet zunächst eine Annäherung an den oben erwähnten zweiten Ansatz, der die arabische Wahrnehmung des Holocaust im Zusammenhang mit der Palästinafrage erklärt. Hierbei sind zwei kürzlich erschienene Werke von Bedeutung. Die israelischen Politikwissenschaftler Meir Litvak und Esther Webman veröffentlichten 2009 die Ergebnisse ihrer

12 Auf die »Gerechten unter den Völkern« bezieht sich der amerikanische Nahostwissenschaftler Robert Satloff mit dem Titel seines 2006 erschienenen Buches, in dem er der Geschichte der antijüdischen Verfolgungen in Nordafrika während des Vichy-Regimes auf den Grund geht und dabei die Rolle der arabischen »Gerechten«, die trotz der Gefahr für das eigene Leben Juden versteckten oder ihnen zur Flucht verhalfen, darstellt: Satloff, Among the Righteous. 13 Zu den vielfältigen Eindrücken und Reaktionen, mit denen das faschistische Regime Italiens, aber auch der Nationalsozialismus im arabischen Raum wahrgenommen wurden, vgl. bes. Gershoni/Nordbruch, Sympathie und Schrecken; über einzelne Länder vgl. bes. die Werke des israelischen Historikers Israel Gershoni über Ägypten, u.a.: Eine Stimme der Vernunft; Egyptian Liberalism in an Age of »Crisis of Orientation«; Confronting Nazism in Egypt; Or bezal [Licht in der Dunkelheit]. Zu Libanon und Syrien vgl. Nordbruch, Nazism in Syria and Lebanon.

© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369937 — ISBN E-Book: 9783647369938

Omar Kamil, Der Holocaust im arabischen Gedächtnis Einleitung

13

Forschungen über arabische Reaktionen auf den Holocaust.14 Litvak/Webman sind überzeugt von einer Kausalität zwischen dem Konflikt um Palästina und der arabischen Leugnung des Holocaust, sie formulieren daher in der Einleitung ihre Grundthese: »Die arabische Ablehnung Israels überschattete Fähigkeit und Willen der Araber zum Mitgefühl mit der jüdischen Tragödie und erst recht zur Anerkennung des Holocaust.«15 Von dieser These ausgehend präsentieren die Autoren in elf ausführlichen Kapiteln eine Bestandsaufnahme arabischer Holocaust-Diskurse vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zur Gegenwart.16 Entsprechend dem Titel From Empathy to Denial zeigen sie, dass die Eskalation des Konflikts mit der Gründung Israels 1948 den Ausschlag für die arabische Leugnung des Holocaust gab, während arabische Texte aus den Jahren 1945–1948 über das Schicksal der europäischen Juden eher von Empathie geprägt waren. Das Erklärungsmodell vom Palästinakonflikt als dem Leitmotiv arabischer Leugnung des Holocaust ist unzweifelhaft brisant. Dies lässt sich an der gleichfalls 2009 erschienenen Arbeit des libanesischen Politikwissenschaftlers Gilbert Achcar zeigen.17 Grundsätzlich ähnelt sie der Untersuchung von Litvak/Webman. Auch Achcar stellt eine Dokumentation arabischer Reaktionen auf den Holocaust von 1933 über 1948 bis in die Gegenwart hinein zusammen. Doch seine Untersuchung The Arabs and the Holocaust ist nicht ohne ihren Untertitel zu verstehen, der den Arab-Israeli War of Narratives betont. Diese Deutung zieht sich wie ein roter Faden durch die gesamte Studie. Achcar hat dabei durchaus aufklärerische Absichten, was sicher auch mit Fragen von Herkunft und Erkenntnisinteresse zusammenhängt: Der 1951 als Kind einer christlich-libanesischen Familie im westafrikanischen Senegal geborene Achcar zog 1959 mit seinen Eltern in den Libanon zurück,18 er hat also als junger Mann den Sechstagekrieg 1967 miterlebt. Die arabische Niederlage wurde für den Schüler zum Wendepunkt: Er rebellierte gegen den Panarabismus und »konvertierte« zum Marxismus. Aus dem christlichen Jungen wurde ein internationalistischer Aktivist. Achcar hatte sich für eine akademische Laufbahn entschieden, die seiner universalistisch-marxistischen Überzeugung entsprach. Er publizierte über die Wiederbelebung des Marxismus im arabischen Raum, gegen den Zionismus, gegen die amerikanische Hegemonie und auch gegen den islamischen

14 Litvak/Webman, From Empathy to Denial. 15 Ebd., 2. 16 Die Autoren gliedern ihre Ausführungen in zwei Hauptteile über »Historical case studies« (23–131) und »Prominent representation themes« (155–331), wobei Teil I vier und Teil II sieben Kapitel umfasst. 17 Achcar, The Arabs and the Holocaust. 18 Vgl. dazu Mustafa Basyuni, jalbir al->ashqar [Gilbert Achcar].

© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369937 — ISBN E-Book: 9783647369938

Omar Kamil, Der Holocaust im arabischen Gedächtnis

14

Einleitung

Fundamentalismus. Seine Schriften sind Ausdruck seiner Aktivitäten gegen die Tyrannei in der arabischen Welt, aber auch seines Kampfes für einen Vorderen Orient, der sich universalistisch neu interpretiert. In diesem Sinn will Achcar mit The Arabs and the Holocaust – ausgehend vom biblischen Motto »Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht?«19 – die Araber über den Holocaust, aber auch die Israelis über die Nakba aufklären, jenes Leid, dass sie aus seiner Sicht mit der Gründung des Staates Israel den Palästinensern zufügten. Die gleichzeitige Behandlung von Holocaust und Nakba erfolgt feinfühlig, ohne beide Ereignisse gleichzusetzen oder gar gegeneinander aufzurechnen. Das macht Achcars Studie so bemerkenswert, offenbart aber gleichzeitig ihre Schwäche. Denn insgesamt analysiert Achcar die Haltung der arabischen Intellektuellen zum Holocaust zwar scharfsinnig und kritisch, dennoch büßt seine Studie überall dort an argumentativer Stringenz ein, wo er den Leugnungsdiskurs arabischer Intellektueller isoliert im Rahmen des arabischisraelischen Konfliktes interpretiert, sozusagen als »Verhandlungsmasse« für einen erwünschten politischen Ausgleich zwischen beiden Parteien und Völkern. Darüber hinaus stellt Achcar in The Arabs and the Holocaust ausführlich den gesamten Themenkomplex jüdisch-arabischer Beziehungen im 20. und 21. Jahrhundert dar, von der allgemeinen Haltung der Araber zu Juden über das Verhältnis arabischer Nationalisten zu den Nationalsozialisten, den Palästinakonflikt und die israelische Reaktion auf die Nakba bis hin zur arabischen Judenfeindschaft. Nur der Holocaust selbst steht nicht zur Debatte. Er wird zum Vehikel, um die Problematik des Verhältnisses zu Israel insgesamt zu thematisieren und sich in Abgrenzung zum Westen zu begreifen. So hat Achcar die arabischen Reaktionen auf den Holocaust zwar berührt, diese aber eher in einer Art Resümee konstatiert als entfaltet. Dem Desiderat einer erkenntnistheoretisch angeleiteten Erforschung der Holocaust-Wahrnehmung arabischer Intellektueller ist damit noch nicht entsprochen, vielmehr besteht der große Wert der Studie in der Formulierung der Fragestellung. Die eingangs beschriebenen frühen Beobachtungen Taha Hussains enthalten bereits jene emblematische Verschränkung verschiedener historischer Erfahrungen, deren exakter Nachvollzug aus Sicht der vorliegenden Arbeit so wesentlich für ein angemessenes Verständnis der Reaktionen arabischer Intellektueller auf den Holocaust ist. In diesem Gegenstand überlagern sich europäische Geschichtserfahrungen, wie die Vernichtung der Juden, mit kolonialen Erfahrungen der arabischen Welt, wie beispielsweise dem europäisch-zionistischen Kolonialisierungsprojekt in Palästina, dem französischen Kolonialismus in Nordafrika, Syrien und Libanon sowie dem 19 Unter anderem Mt 7,3.

© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369937 — ISBN E-Book: 9783647369938

Omar Kamil, Der Holocaust im arabischen Gedächtnis Quellenbasis und Untersuchungszeitraum

15

britischen Kolonialismus in Ägypten. Diese widersprüchlichen, zuweilen rivalisierenden, in jedem Falle aber sich überlagernden Gedächtnisschichten gilt es zu verstehen und zu unterscheiden. Erst dann wird nachzuvollziehen sein, aus welchen Gründen zu einer Zeit, in der sich in Europa – wenn auch langsam und nicht ohne Widerstände – der Holocaust zu einem Schlüsselthema der Historiografie und der politischen Kultur entwickelte, die Rezeption dieses Zivilisationsbruchs seitens arabischer Intellektueller in besonderem Maße eingeschränkt, ja »blockiert« war. Es ist eine der wesentlichen Thesen dieser Studie, dass der Holocaust aufgrund der konkurrierenden Gedächtnisse nicht angemessen wahrgenommen werden konnte und aus diesem Grund sein Ausmaß, seine Ursachen und seine Bedeutung – wenn überhaupt wahrgenommen – relativiert oder geleugnet und seine Folgen verengt dargestellt wurden.

Quellenbasis und Untersuchungszeitraum Eine Quelle der vorliegenden Arbeit bietet die Wochenzeitschrift al-ris¯ala (Die Botschaft). Sie war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zwei Jahrzehnte lang das prominenteste und nachhaltigste Forum arabischer Intellektueller.20 Von Ahmad Hassan az-Zayyat (1885–1968) im Jahr 1933 in Kairo gegründet,21 stand die Zeitschrift Autoren aus Ägypten, Syrien, Libanon und dem Irak offen, alle geistigen und kulturellen Strömungen des arabischen Raums fanden hier ihren Niederschlag.22 Az-Zayyat gelang eine ausgewogene Mischung unterschiedlicher Strömungen, er ging nicht zuletzt deswegen als al-ust¯adh (der Lehrer/der Meister) in die moderne arabische Geistesgeschichte ein. Seine journalistische 20 Gründe dafür, dass sie zu der Kulturzeitschrift des gesamten arabischen Orients wurde, sind u.a. das breite Themenspektrum sowie die Prominenz ihrer Autoren. Beginnend mit einer Auflage von 15000 Anfang der 1930er Jahre, wurden in den 1940er Jahren bereits 50000 Exemplare verkauft, ein Viertel davon ins arabische Ausland. Vgl. dazu az-Zayyat, al-ris¯ala 1, 15. Juni 1933, 3. 21 Vgl. Goldschmidt, Biographical Dictionary of Modern Egypt, 238f. 22 Liberale Strömungen waren vertreten durch Muhammad Husain Haikal (1888–1956), Taha Hussain (1889–1973), Tawfiq al-Hakim (1898–1987),
View more...

Comments

Copyright � 2017 SILO Inc.