Männer, Väter, Jungen

April 24, 2020 | Author: Karoline Koch | Category: N/A
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1 2 Männer, Väter, Jungen Matthias Franz / André Karger (Hg.) Neue Männer muss das sein? Risiken u...

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Leidfaden, 2013, Heft 2

Männer, Väter, Jungen

Matthias Franz / André Karger (Hg.)

Matthias Franz / André Karger (Hg.)

Neue Männer – muss das sein? Scheiden tut weh Risiken und Perspektiven der heutigen Männerrolle

Elterliche Trennung aus Sicht der Väter und Jungen

2. Auflage 2011. 272 Seiten mit 2 Abb. und 20 Tab., kartoniert € 24,99 D ISBN 978-3-525-40440-9 Auch als E-Book erhältlich: ISBN 978-3-647-40440-0

2013. Ca. 288 Seiten, kartoniert ca. € 24,99 D ISBN 978-3-525-45377-3 erscheint im Juni 2013 Auch als E-Book erhältlich: ISBN 978-3-647-45377-4

Männlichkeit und Mannsein sind seit Jahrzehnten öffentlicher Hinterfragung ausgesetzt. Nicht nur das Image der traditionellen Männerrolle ist lädiert, es droht auch der Abstieg in Bildung und Beruf. Und um die Gesundheit der Männer ist es ebenfalls nicht gut bestellt. Die mit der Männerrolle verbundenen Risiken sind wissenschaftlich belegt. Die interdisziplinären Beiträge widmen sich den in ihrer Identität verunsicherten Männern, fragen, wie der Mann heutzutage sein soll oder darf, und setzen sich mit neuen Rollenund Identitätsentwürfen auseinander. Die Autoren geben Anregungen und machen Mut zur männlichen Neuorientierung.

Zerschlagenes Geschirr, Tränen, erbitterte Auseinandersetzungen: Das Ende einer Liebesbeziehung ist für alle Beteiligten ein emotional erschütterndes, schmerzliches Ereignis. Für Kinder ist gerade eine hochstrittige elterliche Trennung, bei der ums Sorgerecht gekämpft wird, mit erheblichen Verunsicherungen und Entwicklungsrisiken verbunden. Der Band klärt über Ursachen und Folgen, Gefahren und Chancen von Trennungen besonders aus Sicht der Väter und Jungen auf. Er zeigt, wie jenseits einer einseitigen Täter-Opfer-Zuschreibung Verständigung und Bewältigung möglich werden.

© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525806029 — ISBN E-Book: 9783647806020

Leidfaden, 2013, Heft 2

EDITORIAL

Männertrauer Jenseits von Klischees und Schubladendenken Ein eigenes Heft zu Männertrauer scheint das Bild einer geschlechtsspezifischen Trauer zu bestätigen. Inwieweit trauern Männer anders? Trauern Männer generell weniger – zu wenig? Sind sie schneller mit ihrer Trauer »fertig«? Welche Formen und Angebote der Trauerbegleitung sind auf eher weibliche Trauerwege zugeschnitten? Was brauchen Männer vor allem? Die Fragwürdigkeit von pauschalen Zuschreibungen und Ansichten wird in diesem Themenheft reflektiert. Männlichkeit wie auch Weiblichkeit sind zunächst als Muster sozialer Praxis zu verstehen. Diese Muster prägen die individuelle Identität von Personen, sie sind jedoch auch eingeschrieben in gesellschaftliche und institutionelle Strukturen. In der Wechselbeziehung von Struktur und Individuum entfaltet Gender seine Wirkkraft und konkrete Gestalt. Oder gibt es doch Unterschiede, die aber weniger im spezifisch Männlichen und Weiblichen liegen, sondern mehr in der Verschiedenheit, wie Menschen mit Verlust, Leid oder Krise umgehen? Trauer gehört zum menschlichen Dasein – sind wir also doch in erster Linie Menschen und dann erst männlich oder weiblich?

In den Artikeln kommen neben der Trauer nach Trennung und Scheidung auch die verschwiegenen und nicht selten aberkannten Seiten der Trauer zur Sprache. Trauer hat viele Gesichter: die von Männern im hohen Alter, deren Angewiesensein zunimmt, wie auch die Trauerreaktionen bei jungen Männern, die auch jenseits der verbreiteten Klischees skizziert werden. Beispielhaft werden Unterstützungsangebote vorgestellt, die unterstreichen, dass die individuelle Unterschiedlichkeit der Personen beachtet sein will, doch auch Räume und Möglichkeiten zu schaffen sind zu solidarischem Anteil-Geben und Anteil-Nehmen im Umgang mit Verlust und veränderten Lebenssituationen.

Heiner Melching

Dorothee Bürgi

Christian Metz

In diesem Heft war ein Beitrag mit dem Titel »Warum jedes Leben ein Kunstwerk ist« vorgesehen. Autor wäre Fritz Roth gewesen. Zwei Tage vor dem Abgabetermin seines Artikels ist Fritz Roth verstorben. »Ein Kunstwerk ist ein Stück Natur, gesehen durch ein Temperament«, lautet eine Aussage von Émile Zola. Der entscheidende Faktor in Zolas Formel scheint weder die »Schöpfung« noch das »Temperament« zu sein, sondern das, was beide zusammenbringt und zum Kunstwerk werden lässt – dieses unscheinbare »gesehen durch« (»vu à travers«). Dieser Blick auf das Leben und das Sterben gleichermaßen war eine Qualität der Ideen und Aussagen von Fritz Roth. Er fehlt uns.

Leidfaden, 2 (2), S. 1 (2013) © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2013, ISSN 2192–1202

© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525806029 — ISBN E-Book: 9783647806020

Leidfaden, 2013, Heft 2

Inhalt

  1 Männertrauer 18  Erich Lehner

  4 Heiner Melching

Trauern Männer anders?

Von Klischees und Vorurteilen

12  Hans-Werner Noffke 17 Jahre danach

29  Elisabeth Reitinger Männer im hohen Alter

34  Allan Guggenbühl Rückzug, saufen oder reden?

39  Roland Kachler Was Männer in ihrer Trauer brauchen

23 Traugott Roser Schäm dich!

44 Peter Mann

Vergangenheit, die nie vergeht!

© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525806029 — ISBN E-Book: 9783647806020

Leidfaden, 2013, Heft 2

52 Mechthild Schroeter-Rupieper Männertrauerstammtisch mit Currywurst und Bier …

58 Andreas Heek Trauer nach Trennung und Scheidung

62  Ferdi Schilles »Auf einmal verstehst du dich selbst nicht mehr …«

77  Nachrichten 82  Fortbildung 86  Impressum

69

Interview mit Uwe Radermacher »Wenn Sie gute Augen haben, können Sie den Leuchtturm sehen …«

74 Interview mit Günter Lamprecht Und wehmütig bin ich immer noch

© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525806029 — ISBN E-Book: 9783647806020

Leidfaden, 2013, Heft 2

© Heiner Melching

Offensichtlich besteht ein breiter gesellschaftlicher Konsens darüber, welche Formen des Umgangs mit Trauer als »typisch männlich« angesehen werden.

© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525806029 — ISBN E-Book: 9783647806020

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Von Klischees und Vorurteilen »Wie geht’s Ihrer Frau?«

Heiner Melching

Vor vielen Jahren berichtete mir eine befreundete Kollegin aus der Arbeit mit verwaisten Eltern, dass sie diese Überschrift als Buchtitel verwenden möchte, sofern sie einmal ein Buch über trauernde Väter schreiben würde. Sie hat dieses Buch bisher nicht geschrieben, aber die Frage »Wie geht es Ihrer Frau?« ist mir in mehr als zwölf Jahren Arbeit mit verwaisten Eltern immer wieder begegnet. Es ist die Frage, die trauernde Väter häufig am Arbeitsplatz oder von entfernten Bekannten gestellt bekommen, wenn dort bekannt wurde, dass in der Familie ein Kind gestorben ist. Väter hören aus dieser Frage aber nicht nur ein Interesse am Wohlbefinden der Ehefrau heraus, sondern sie vernehmen in der Regel auch sehr deutlich den Appell: »Kümmern Sie sich gut um Ihre Frau! Seien Sie stark! Ihre Frau braucht Sie – gerade jetzt!« Hinzu kommt, dass diese Frage den Anschein vermittelt, als sei der Tod eines Kindes für Mütter generell schwerer zu verkraften als für Väter beziehungsweise als würden Väter vielleicht aufgrund der Tatsache, dass sie bereits wieder zur Arbeit gehen, den Verlust besser bewältigen können. Zudem wird der Verdacht nahe gelegt, dass Väter lieber oder leichter über die Trauer ihrer Frau sprechen als über die eigene. Oder wird die Trauer von Männern in diesen Fällen nicht gesehen? Ist sie für das Umfeld schwerer wahrzunehmen? Und wenn das so ist, obliegt es dann den Männern, mit ihrer Trauer offensiver umzugehen? Oder muss das Umfeld sich feinfühliger zeigen und mit vorschnellen Interpretationsversuchen achtsamer umgehen? Offensichtlich besteht ein breiter gesellschaftlicher Konsens, der sich auch als roter Faden durch

einen Großteil der Trauerliteratur zieht, darüber, welche Formen des Umgangs mit Trauer als »typisch männlich« angesehen werden. In vielen Äußerungen, die Frauen zum Thema Männertrauer machen, nehme ich eine Art von mitleidigen Hilfsangeboten wahr, die den Männern zwar eine grundsätzliche Fähigkeit attestieren, Gefühle zu erleben, ihnen aber zugleich auf subtile Art den Vorwurf machen, diese nicht adäquat zum Ausdruck bringen zu können und sich mitunter gar ungesund und unachtsam gegenüber sich selbst zu verhalten. Die von Männern verfassten Publikationen zum Thema Männertrauer sind nach meinem Empfinden hingegen nicht selten von einem gewissen Rechtfertigungsdrang getragen. Hierbei wird unermüdlich darauf verwiesen, dass Männer sehr wohl ihre tiefen Gefühle zu zeigen imstande sind, dies jedoch auf eine ihnen eigene Art und Weise zu tun pflegen, die von außen nur selten eine entsprechende Anerkennung, Übersetzung und Wertschätzung erfährt. Gleichwohl will der Mann aber auch Mann sein und bleiben. Und so geht es um den Spagat zwischen einem gefühlvollen Mann, der kein Weichei ist, und einem männlichen, entscheidungsfreudigen Wesen, welches kein Macho ist. Ja, welcher Mann wäre nicht gern wie Robert Redford? Flucht in die Arbeit? Einigkeit scheint darüber zu bestehen, dass Männer dazu neigen, ihrer Trauer aktiv zu begegnen. Nicht selten wird hierin aber auch eine Art Flucht in die Arbeit gesehen. Ich halte es für lohnens-

Leidfaden, 2 (2), S. 4–11 (2013) © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2013, ISSN 2192–1202

© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525806029 — ISBN E-Book: 9783647806020

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wert, sich dieser These aus verschiedenen Blickwinkeln zu nähern. Zunächst stellt sich die Frage nach den realen Lebensumständen. Kann man von einer »Flucht in die Arbeit« sprechen, wenn ein Vater nach dem Tod seines Kindes gerade einmal für drei Tage arbeitsunfähig geschrieben wurde? Kann das Reagieren auf reale Notwendigkeiten wie das Organisieren einer Beerdigung, das Geldverdienen und so weiter als Flucht oder Aktionismus interpretiert werden? Des Weiteren gilt es, die zweifelhafte Kausalität zu betrachten, die nicht selten zwischen der Aktionsorientierung von Männern und Flucht- oder Verdrängungstendenzen benannt wird. Sicherlich ist es unstrittig, dass es in der Trauer hilfreich ist, dieser aktiv zu begegnen, um Hilflosigkeit und Ohnmacht durch Handlungsfähigkeit begegnen zu können und der Trauer Ausdruck zu verleihen. Insbesondere Ritualen wird hierbei eine große Bedeutung zugemessen. Unklar bleibt, warum männliches Handeln in diesem Kontext nur selten als besondere Qualität betrachtet wird und gegenüber dem Trauerverhalten, das Frauen zugeschrieben wird (etwa das offene Sprechen

über den Verlust mit Freundinnen und in Trauergruppen), in der Regel eine niedrigere Bewertung erfährt. Neben dem Phänomen, dass offensichtlich eine große Neigung existiert, unterschiedliche Verhaltensweisen und Ausdrucksformen einer Bewertung zu unterziehen, erscheint es mir wichtig zu betrachten, wodurch in unserer Gesellschaft Männlichkeit und somit auch männliche Trauer definiert werden. Ich sehe hier vier stark miteinander korrespondierende Bereiche als verantwortlich (siehe Abbildung 1). Wann ist denn ein Mann ein Mann? Zunächst besteht ein gesellschaftlich getragenes Rollenverständnis, aus dem auch Wertvorstellungen und normative Handlungsweisen entspringen. Also auch die Frage: Wie trauert man, wie trauert Mann? Dies steht in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis zur realen Lebenswirklichkeit von Männern und Frauen, zu der Beziehungen, physiologische, psychologische, soziale und spirituelle Dispositionen und Bedingungen

Abbildung 1

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zu zählen sind. Hieraus bildet sich das individuelle Selbstverständnis von Männern, das wahrgenommen, abgeglichen und weiterentwickelt wird anhand eines sozialen Gegenübers. Ernst Bloch schreibt dazu: »Was lebt, erlebt sich noch nicht. Am wenigsten in dem, dass es treibt« (Bloch 1963/1996, S. 12), womit gemeint ist, dass jedes Subjekt eines Objekts bedarf, und zwar nicht erst zur Bewertung, sondern bereits zur Erfahrung seiner selbst. Dieses Konstrukt (Abbildung 1) lässt sich auch auf die Frage übertragen, wie Vorstellungen von Trauer und Trauerverhalten gesellschaftlich hervorgebracht werden (Abbildung 2). Ein solches Geflecht schafft selbstverständlich auch Erwartungen, welche wiederum einen nicht unerheblichen (Erwartungs-)Druck auf Trauende und somit auch auf trauernde Männer ausüben. Wer Männer verstehen will, darf nicht nur die Männer betrachten Im Sinne einer systemischen Betrachtungsweise greift also jedes Erklärungsmodell und jede Intervention zu kurz, die ausschließlich das trauernde

Subjekt im Fokus hat. Somit halte ich auch Vorsicht für geboten, wenn es um die Interpretation von Studien geht, die beispielsweise deutlich ansteigende Risiken bei verwitweten Männern in Bezug auf Sterblichkeit, Suizidalität, Depressionen und Alkoholabhängigkeit nachweisen (zum Beispiel Martikainen und Valkonen 1996). Insbesondere sollte allen Versuchen widerstanden werden, eine Kausalität zwischen den beschriebenen Ergebnissen solcher Studien und männlichem Trauerverhalten zu konstruieren. Ansonsten kämen Aussagen zustande im Sinne von: »Weil Männer so ungesund (oder falsch) trauern, werden Sie krank und sterben früher.« Zunächst müsste doch im Einzelfall überprüft werden, ob beispielsweise ein 70-jähriger Witwer, dessen Frau nach 40 Ehejahren verstorben ist, einem höheren gesundheitlichen Risiko ausgesetzt ist, weil er nicht »heilsam« zu trauern vermag, oder ob die Ursache hierfür nicht in den radikal veränderten realen Lebensumständen zu suchen ist, da eventuell die Ehefrau als alltägliches Korrektiv nicht mehr zur Verfügung steht und nun niemand mehr für einen Lebensrhythmus sorgt, der

Abbildung 2

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© Heiner Melching

Es geht es um den Spagat zwischen einem gefühlvollen Mann, der kein Weichei ist, und einem männlichen, entscheidungsfreudigen Wesen, welches kein Macho ist. Welcher Mann wäre nicht gern wie ­Robert Redford?

regelmäßige gesunde Ernährung, frische Luft und Arztbesuche beinhaltet. Trauergruppe oder Kontaktanzeige? Überspitzt formuliert könnte sich also die Frage stellen, ob diesem Witwer mehr geholfen ist mit einem Trauerbegleitungsangebot, das ihn dabei unterstützt, den Verlust zu realisieren und mit ihm zurechtzukommen, oder ob eine Kontaktanzeige und die Hilfe bei der Suche nach einer neuen Partnerschaft nicht einen größeren Effekt erzielen würde. Und tatsächlich habe ich in Trauergruppen und Trauercafés gelegentlich Männer mit »rege interessierten Blicken« wahrgenommen.

Dass jegliche Pauschalisierung männlichen Trauerverhaltens den unterschiedlichen Lebensbezügen und der jeweiligen Individualität nicht gerecht werden kann, verdeutlicht auch eine Studie von Simon und Barrett (2010), die zum Ergebnis hat, dass junge Männer (unter bestimmten Voraussetzungen) eine Trennung besser und mit weniger gesundheitlichen Konsequenzen verkraften können als gleichaltrige Frauen. Trauer ist Beziehungsarbeit Da es aus meiner Sicht in der Trauer vornehmlich um die Arbeit an der Beziehung zum Verstorbenen und zum sozialen Umfeld geht, interessiert mich neben den Lebenssituationen

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also vornehmlich diese Form der Beziehungsarbeit. Somit wäre es vermutlich interessant zu betrachten, wie Männer Beziehungen eingehen und gestalten, da die notwendige Umgestaltung einer Beziehung nach dem Tod eines geliebten Menschen sich in Abhängigkeit zur bisherigen Beziehungsgestaltung vollziehen wird. Stroebe und Stroebe weisen darauf hin, dass in Partnerschaften Frauen für Männer in der Regel die hauptsächliche Quelle sozialer Unterstützung darstellen, während dies bei Frauen eher andere Familienmitglieder und Freunde sind (W. und M. Stroebe 1987). Meine Beobachtungen aus der Arbeit mit trauernden Eltern haben mir gezeigt, dass sich in der Trauer um ein Kind, zu dem grundsätzlich die verbindlichste aller möglichen Beziehungen besteht, keine qualitativen Unterschiede zwischen Vätern und Müttern im Umgang mit dem Verlust zeigen. Ich habe ebenso viele Männer wie Frauen weinen, lachen, fluchen und schweigen gesehen. Beide waren in der Lage, ihre Gefühle zu benennen oder anhand von Bildern auszudrücken sowie irrationale Dinge wahrzunehmen, von denen sie zuvor nur wenig zu ahnen vermochten. Und beiden ist es im besten Fall gelungen, die individuellen situativen Bedürfnisse sowie das unterschiedliche Tempo der jeweiligen emotionalen Achterbahnfahrt als Verbindendes und nicht als Trennendes wertzuschätzen. Auch für das in der Literatur zu findende und durch nichts belegte Gerücht, dass sich viele Paare nach dem Tod eines Kindes trennen, konnte ich keinerlei Anhaltspunkte finden. Nur weniger als zwei Prozent der weit über tausend Paare, die ich in ihrer Trauer begleitet habe, haben sich getrennt und taten dies aus meiner Sicht als folgerichtigen Schritt, weil die Ehe auch zu Lebzeiten des Kindes über kein ausreichendes Fundament verfügt hat und womöglich nur wegen des Kindes oder eines noch nicht abbezahlten Eigenheims aufrechterhalten wurde. Aufgrund der erfolgten Werteverschiebung, die der Tod eines Kindes fast immer mit sich bringt, betrachte ich diese Tren-

nungen als konsequent und richtig. Viel häufiger hingegen habe ich erlebt, dass Paare sich in der Trauer intensiver als bisher begegnet sind, gelegentlich zum ersten Mal in ihrer Beziehung über Glaubensvorstellungen und spirituelle Aspekte gesprochen haben und für die vorhandene Unterschiedlichkeit ein wahrhaftiges Interesse gezeigt und diese respektiert haben. Worin besteht oder zeigt sich die Unterschiedlichkeit zwischen Männern und Frauen? Die Unterschiedlichkeit zeigt sich zunächst häufig in der Nichterfüllung bestimmter Erwartungen an trauernde Männer und Frauen. So kam es durchaus vor, dass Frauen ihre Männer mehr oder weniger im Schlepptau in die Beratungsstelle der Verwaisten Eltern Bremen mitbrachten und Enttäuschungen äußerten, die sich so anhörten: »Mein Mann trauert überhaupt nicht richtig, er frisst alles in sich hinein, spricht kaum und weint überhaupt nicht – obwohl ich ihm doch immer sage ›wein doch mal – das wird dir gut tun‹.« Vergessen wurde dabei in der Regel, dass die bisherigen Erwartungen an diesen Mann vielleicht gänzlich anders ausgerichtet waren, nämlich im Sinne eines »starken Mannes«, und die Situation und die Rahmenbedingungen, in denen jetzt ein »weinender Mann« gewünscht wurde, für diesen Mann womöglich unpassend oder unzumutbar waren. Im Rahmen eines geschützten Raumes und unter ähnlich Betroffenen konnte es hingegen oftmals ganz einfach werden. Für die Männer war es zumeist auch sehr beruhigend zu hören, dass die begleiteten Trauergruppen fast zu gleichen Teilen von Männern und Frauen aufgesucht wurden und sie nicht die Sorge haben mussten, als »Sonderling« allein unter Frauen ihr Innerstes preisgeben zu müssen. Im Rahmen eines festgelegten Settings (jeweils Blöcke mit zehn Treffen über einen Zeitraum von etwa fünf Monaten) bestand auch die Möglichkeit, in weiteren

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Blöcken als Paar in unterschiedlichen Gruppen teilzunehmen. Erlaubnis versus Forderungen und Erwartungen Der Schlüssel zu einer hilfreichen Unterstützung liegt meiner Meinung nach neben der Wertschätzung für die erbrachte Trauerleistung, die sich schon allein im Überleben einer solchen Kata­

strophe zeigt, vor allem im Vorhandensein von Erlaubnissen. Erlaubnis, die frei von Erwartungen und Forderungen existiert und benannt wird. Ja – man darf auch nach dem Tod eines Kindes wieder lachen, ohne dass dadurch die Schwere der Trauer oder die Liebe zum Kind in Frage gestellt wird. Ja – Männer dürfen Lust auf Sex verspüren und dies äußern, auch wenn es für die Partnerin vielleicht noch nicht vorstellbar ist. Ja – man darf irrationale Wahrnehmungen haben und

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In Partnerschaften stellen ­Frauen für Männer in der Regel die hauptsächliche Quelle ­sozialer Unterstützung dar, während dies bei Frauen eher andere Familienmitglieder und Freunde sind.

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