Indifferenz des Gewissens

July 10, 2016 | Author: Nicolas Bergmann | Category: N/A
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1 Amnestie - als Revision, nicht als Verdrängung voran die Isolationshaft abzuschaffen sind, müssen deren zum ...

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Amnestie - als Revision, nicht als Verdrängung

voran die Isolationshaft abzuschaffen sind, müssen deren zum Teil habhafte Folgen - also schwere, oft irreparable Gesundheitsschäden - sofort entlastet werden, durch Freilassung der haftunfähigen Gefangenen wie z. B. Günter Sonnenberg, Claudia Wannersdorfer, Angelika Goder und Bernd Rössner. Amnestie steht also an, in ihr enthaltene Revision, nicht Vergessen. Amnestie als Voraussetzung, eigene Vergangenheit, eigenes schuldhaftes So-oder-soHandeln annehmender Erinnerung und entsprechender Fähigkeit zuzuführen, sich individuell und kollektiv ein Stück zu verändern. Darum wird die Amnestie nun selbst ein Teil des gesellschaftlich-fortdauernden Kampfes um die Erinnerung; um das, was und wie etwas erinnert wird. Als Bismarckturni; als Haus der Deutschen Geschichte; als Feier der Bundesrepublik im Goldglanzformat; oder als aktuelles, vergangen-erfahrenes Handeln um einer Gegenwart und Zukunft willen, deren Erinnerung keinen drohenden Schatten darstellt, die nicht verdrängt und verleugnet werden muß. In diesem Sinne steht mit der Amnestie, die dem Terrorismus/Anti-Terrorismus der 70er Jahre gilt, zugleich ein Stück der schlechten Amnestie der nationalsozialistischen Vergangenheit am Eingang der Bundesrepublik mit zur Diskussion.

Indifferenz des Gewissens Die deutsche Bevölkerung und die „Reichskristallnacht" Von Ian Kershaw

Am 9. Novemberjährt sich der Tag der ,,Reichskristallnacht" zum fünfzigsten Mal und wird Anlaß bieten für Rückblicke auf die deu tsch-jüdische Vergangenheit, auf Vorgeschichte und Einzigartigkeit des Holocaust und auf die Gegenwart des deutsch-jüdischen Zusammenlebens. Als zentraler Ort von Gedenkveranstaltungen ist in diesem Jahr Frankfurt/Main ausersehen worden. Der Zentralra t der Juden Deutschlands wird die Gedenkfeierin der dortigen Synagoge veranstalten, an der auch Bundeskanzler Helmut Kohl teilnehmen wird. Die Tradition jüdischer Gedenkfeiern droht freilich dieses Jahr in den Schatten gestellt zu werden durch eine stadtoffizielleFrankfurter ,,Wiedergutmachungsorgie" (so ein Theaterleiter der Stadt), für die der Magistrat

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allein eine Million DM zur Verfügunggestellt hat. Ein Galaa bend in der Alten Oper am 9. November, Konzerte, Matineen und Symposien sollen, wie Kritiker befürchten, den Gedenktag zu einem weihevollen ,,Versöhnungs "- und ,,Kulturfestival" umfunktionieren, in dessen gediegener Atmosphäre man die unguten Erinnerungen an die Überbauung der wiederaufgefundenen Reste des Judenghettos auf dem Börneplatz oder die Absage der jüdischen Gemeinden an das Bitburg-Spektakel des Jahres 1985 überspielen möchte. Die Blicknchtung der folgenden beiden Beiträge verweigert sich einer beschwichtigenden Perspektive. Sie handeln nicht von den - vielfach bekann ten - NS-Inszenierungspraktiken der ,,Reichskristallnacht", die i m übrigen kein Pogrom in der Tradition des christlich -abendländischen Antisemitismus war, sondern eine Partei- und Staatsaktion i m Vorfeld der Massenvernich tung. Die Aufmerksamkeit von Ian Kershaw, Professorfür Neuere Geschichte an der Universität Nottingham, und von Monika Hübsch-Faust, Redakteurin der ,,Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte " in Duisburg, gilt dem damaligen und dem heutigen Verhalten und den Mentalitäten der deutschen Bevölkerung, denn bei ihr liegt die Erblast stillschweigender Komplizenschaft und selbstgerechter Ignoranz. D. Red. Einmal nur im Dritten Reich stand das volle Ausmaß der offenen Gewalt und uneingeschränkten Brutalität der NS-Machthaber gegen die jüdische Minderheit unmittelbar vor den Augen jedes deutschen Staatsbürgers. Das war am 10. November 1938 nach jener Terrornacht, die die Nazis zynisch „Reichskristallnacht " nannten - nach einem reichsweiten Pogrom mittelalterlichen Stils, in dem die Nazihorden fast hundert Juden ermordeten, unzählige weitere schwer mißhandelten, die Synagogen in ganz Deutschland niederbrannten und jüdische Geschäfte und Wohnungen verwüsteten. Das von Goebbels im Einvernehmen mit Hitler inszenierte Novemberpogrom, das bekanntlich den Anlaß der Ermordung des Legationssekretärs Ernst vom Rath nutzte, um die wirtschaftliche Ausschaltung und jüdische Emigration voranzutreiben, folgte fünfeinhalb Jahren sporadischer aber eskalierender Diskriminierungen und Ausschreitungen gegen die Juden. Es stellte den Gipfel und gleichzeitig das Ende des wilden, primitiven Radauantisemitismus in Deutschland dar. Danach ging die bis dahin unkoordinierte Judenpolitik in die Hände der SS über und leitete die systematischere (wenn nicht gradlinige) Judenpolitik ein, die schließlich in der „Endlösungukulminierte. Insofern markiert die „Reichskristallnacht " eine Zäsur in der Judenpolitik. Sie trennt außerdem die Phase der offenen Gewalt von der vorhergehenden Phase möglichst strenger Geheimhaltung der Behandlung der Juden gegenüber der deutschen Bevölkerung. Es stellt sich deswegen nicht nur die Frage, welche Reaktionen der deutschen Bevölkerung auf die „Reichskristallnacht" auszumachen sind, sondern ob die Verhaltensweisen der Machthaber sie veranlaßten, die Judenpolitik künftig neu zu gestalten und so geheim wie nur möglich durchzuführen. Nicht zuletzt nehmen deswegen die Reaktionen auf den Pogrom eine zentrale Stelle ein in

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der noch anhaltenden Debatte über die Komplizenschaft der Bevölkerung beim Genozid gegen die Juden. Geht die eine Interpretation angesichts der Reaktionen auf die „Reichskristallnacht" davon aus, „daß das deutsche Publikum antisemitische Gewaltakte abgelehnt hat", und „daß Hitler und seine Henker die Juden aus Deutschland und anderen Teilen Europas gegen den Willen des deutschen Volkes ermordetenu1),so behauptet eine entgegengesetzte Deutung, eine Ablehnung des Pogroms erfolgte hauptsächlich aus wirtschaftlichen Motiven, während die Mitwisserschaft des späteren Schicksals der Juden die Bezeichnung ,,passive (oder ,objektive') Komplizenschaft der Bevölkerung in der ,Endlösung' " erlaube21. Ein kursorischer Blick auf das Verhalten der Bevölkerung zur Zeit der „Reichskristallnacht" genügt aber zu zeigen, daß schwarz-weiße Antworten auf die Frage nach den Reaktionsweisen der Bevölkerung rasch in Gefahr der Versimplifizierung geraten. Am Vorabend des Pogroms Nach zwei relativ ruhigen Jahren in der ,,Judenfrage" fing im Herbst 1937 die dritte (nach den vorherigen antisemitischen Wellen vom Frühjahr 1933 und Sommer 1935) und bis dahin schlimmste Phase der Judenverfolgurlg im Rahmen der sog. „Arisierung" der Wirtschaft an. Im Zeichen der außenpolitischen Spannung des Sommers 1938 nahm die Vergiftung der antijüdischen Atmosphäre immer bedrohlichere Formen an. Ausschreitungen gegen Synagogen und jüdische Friedhöfe geschahen nun viel häufiger als in früheren Jahren. Wie im Jahre 1935 gingen die Auswüchse durchweg auf Initiativen der lokalen Parteiaktivisten zurück und wurden von Parteigliederungen durchgeführt. Spontane ,,Aktionenu der nicht-organisierten Bevölkerung gegen die Juden ereigneten sich so gut wie nie. Andererseits waren die Juden bis zum Herbst 1938 auf Grund der eskalierenden Diskriminierung durch die ausführenden Verordnungen der Nürnberger Gesetze schon weitgehend als isolierte und unbeliebte Minderheit an den Rand der deutschen Gesellschaft verdrängt worden. Bis zum Vorabend der „Reichskristallnacht" läßt sich wohl verallgemeinernd behaupten, daß die öffentlichen Gewalttaten und Terroraktionen auf - aus welchen Motiven auch immer - weitverbreitete Antipathie bei der Masse der Bevölkerung stießen. Gleichwohl war allmählich die Bereitschaft gewachsen, die gesellschaftliche und wirtschaftliche Diskriminierung der Juden prinzipiell zu akzeptieren und die Berechtigung des Nazi- ,,Kampfesugegen das Judentum weitgehend anzuerkennen. Man lehne den primitiven ,,Pogrom-Antisemitismus" Streicherscher Art ab, hieß es in einem SOPADE-Bericht aus dem 1) William. S. Allen, Die deutsche Öffentlichkeit und die .Reichskristallnacht " -Konflikte zwischen Werthierarchie und Propaganda im Dritten Reich, in: Detlev Peukert/Jürgen Reulecke (Hrsg.),Die Reihen fast geschlossen. Beiträge zur Geschichte des Alltags unterm Nationalsozialismus, Wuppertal1981, S. 398,409. 2) Otto Dov KulkalAronRodngue, The German Population and the Jews in the Third Reich. Recent Publications and Trends in Research on German Society and the "Jewish Question", in: ,,Yad Vashem Stutiies" 16, 1984. S. 434-5.

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Jahre 1936, gebe aber Hitler doch zum größten Teil recht, „daß er die Juden aus den wichtigsten Positionen herausdrängt03).Ein anderer Bericht gab zu, daß es den Nazis gelungen war, „die Kluft zwischen dem Volk und den Juden zu vertiefen. Das Empfinden dafür, daß die Juden eine andere Rasse sind, ist heute allgemein " 4). Grob gesagt, gab es drei verschiedene Grundhaltungen gegenüber den Juden. Eine Minderheit der Bevölkerung (hauptsächlich in den Parteigliederungen organisiert) bestand aus ,,dynamischen " Judenhassern. Ab 1933 konnte sich diese Minderheit auf die mächtige Unterstützung von Partei und Staat verlassen. Eine viel kleinere und völlig machtlose Minderheit lehnte den Antisemitismus ab, zeigte menschliches Mitgefühl für verfolgte Juden und leistete - manchmal auf eigene Kosten - womöglich Hilfe und Unterstützung. Zwischen diesen Polen verhielt sich die große Mehrheit der Bevölkerung, die unterschiedliche Schattierungen von Antisemitismus aufwies, meistens passiv, zurückhaltend oder gleichgültig. Diese drei Verhaltensmuster lassen sich immer wieder erkennen - in den Reaktionen auf die ,,Reichskristallnacht" und später noch in der Haltung gegenüber den Deportationen und der Vernichtung. Der Pogrom rief Bestürzung hervor . . . Die Judenhetze des Sommers 1938 mußte nicht zwangsläufig in einem großen Pogrom enden. Allein der Schock und die Bestürzung, die überall nach dem Pogrom registriert wurden, zeigen, daß jahrelang betriebene NS-Propaganda und Judenverfolgung nicht genügten, um die breite Masse der Bevölkerung auf eine solche Barbarei vorzubereiten. Der Pogrom kam trotz der Hetzkampagne des Sommers nicht nur für die Bevölkerung, sondern auch für wichtige Teile der NS-Führung (einschließlich Himmler, Heydrich und Göring) unerwartet. Und, wie wir wissen, ging Goebbels' Initiative auf keine Planung zurück, sondern wurde ad hoc entfaltet. Andererseits war der Zeitpunkt für die Entfesselung eines Pogroms ideal gewählt und das Haßklima in den Rängen der Parteiaktivisten perfekt aufgeputscht. Das bewies sich in einer Reihe von lokalen Pogromen, die im antisemitisch sowieso relativ verseuchten Hessen schon am Tage vor der ,,Reichskristallnacht" ohne zentrale Steuerung von einzelnen Ortsgruppen der NSDAP unternommen wurden. Die lokalen Aktionen überzeugten Goebbels, daß die Zeit für eine „GroßaktionUreif sei. Daß die ,,Reichskristallnacht" „eine spontane Antwort" der Bevölkerung auf die Ermordung von Ernst vom Rath war, wie die Richtlinien für die deutsche Presseberichterstattung suggerierten, glaubte niemand. „Auch die Öffentlichkeit weiß bis auf den letzten Mann", gab das Oberste Parteigericht später zu, „daß politische Aktionen wie die des 9. November von der Partei organisiert 3) Deutschlanti-Berichte der SOPADE 1934-1940 ( 7 . Bde.), Frankfurt/M. 1980 (im folgenden: DBS), Bd. 3. S. 24-5. 4 ) Ebd., C. 27.

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und durchgeführt sind"5).Da die Zerstörungen meistens mitten in der Nacht stattfanden, war es ohnehin klar, daß die meisten Bürger wenig oder gar nichts davon wußten, bis sie am nächsten Morgen die wüsten Szenen der Trümmer auf den Straßen der Großstädte und zahlreicher kleinerer Orte sahen.

. . . doch es gab auch Mitmacher Obwohl der Pogrom kein Ausbruch der Volkswut war, ließen sich überall einige Einwohner dazu hinreißen, die Zerstörer anzuspornen, ihre Genugtuung über das Geschehene zum Ausdruck zu bringen oder verhaftete Juden zu bespötteln und anzupöbeln. Einiges spricht dafür, daß häufig Jugendliche und Kinder sich dabei besonders aggressiv verhielten. Die Aufzeichnungen des Juden Walter Tausk aus Breslau bieten ein Beispiel: ,,In teilweise stark übernächtigtem Zustand wogten Gruppen halbwüchsiger Jungen und Mädel von fünfzehn bis achtzehn Jahren auf und ab. Die Burschen rühmten sich, unter lautem Geschrei der Mädel, ,wie sie reingesommert hätten' (sommern: gleich ,pfeffern'),und führten ihre ,Damen' von einem Laden zum andern herum. . . Ich sah eine Menge Kinder, die allein, oder von den Eltern unterwiesen, voller Freude in die Hände klatschten. Ich war mitten im tiefsten Mittelalter. . . Das dichte Spalier an der Kreuzung Tauentzien-Höfchenstraße grölte bei jedem Auto (d. h. mit jüdischen Verhafteten besetzten Polizeiwagen; d. Verf.): ,Aufhängen.' Mit meinem katholischen Aussehen und der ,Figur eines Kiiminalbeamten' ging ich überall schlankweg durch und kam unbehelligt nach Hause. Aber wer jüdisch aussah, wurde angepöbelt oder gar mitgeschleift! "6) Laut weiteren jüdischen Augenzeugen beschränkte sich die Zustimmung und sogar Beteiligung an der „Aktionukeineswegs auf die jüngere Generation. ,,Sonst normale Bürger" sollen, späteren Augenzeugenberichten zufolge, in einigen Städten an den Gewalttaten teilgenommen haben - in L)üsseldorf sogar Ärzte vom städtischen Krankenhaus7). Stimmen derAblehnung, besonders gegen die Methoden Gleichwohl stimmen Berichte aus unterschiedlichster Provenienz darin überein, daß die überwiegende Mehrzahl der Bevölkerung den Pogrom mißbilligte. Selbst Meldungen von Nazi-Instanzen gaben dies zu. Aus Niederbayern und der Oberpfalz beispielsweise wurde gemeldet, daß die Art der Durchführung der ,,Aktionuwenig Verständnis gefunden habe und „bis weit in Parteikreise verurteilt" worden seial. Durch getarnte Umfragen bei einer Gruppe von ihm bekannten Parteimitgliedern stellte der Psychologe Michael Müller-Claudius fest, daß 26 der befragten 41 Personen uneingeschränkte Entrüstung, 13 Personen Indifferenz oder vorsichtige Zurückhaltung und nur 2 ausdrückliche Billi5) Zit. n. Hermann Graml, Der 9. November 1938. .Reichskristallnacht", Bonn 1953, S. 16. 6) Walter Tausk, Breslauer Tagebuch 1933-1940, Berlin 1975, S. 181-6. 7) Wiener Library London, PIIdIl5, 151,749. 8) Bayensches Hauptstaatsarchiv. München, MA 106673,Bericht des Regierungspräsidentenvon Iviederbayern und der Oberpfalz vom 8. Dezember 1938.

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gung äußerteng). Nach dem Bericht des amerikanischen Konsuls sei die Bevölkerung in Leipzig „betäubtund entsetzt " gewesen. Der britische Generalkonsul in Frankfurt am Main meinte sogar, die Verantwortlichen „für diese Schande " würden bei freier Wahl ,,durch einen Wutsturm weggefegt " ,, während der britische Charge d'Affaires in Berlin meldete, er habe „keinen einzigen Deutschen getroffen, aus irgendwelchem Stand, der nicht in einem gewissen Grad die Geschehnisse abgelehnt hat"lOJ. Wenn auch solche Meldungen bestimmt einseitig und wohl viel zu großzügig bei der Beurteilung der Volksmeinung waren, herrschte ohne Zweifel breite Ablehnung zumindest gegenüber der Methode der antijüdischen „Aktionu. Abscheu, Entrüstung und Bestiirzung waren offensichtlich weitverbreitete Reaktionen. „AlleBerichte stimmen darin überein", konstatierte die SOPADE im November 1938, „daß die Ausschreitungen von der großen Mehrheit des deutschen Volkes scharf verurteilt werden. " l l ) „Ich mache mich auf, Volksstimmung zu erforschen", schrieb damals Ruth Andreas-Friedrich nieder. ,,Wo ich hinkomme, finde ich im besten Fall Volksverstimmung, im schlimmsten abgrundtiefe Verzweiflung."l21 Jüdische Augenzeugenberichte, vielfach in den Tagen unmittelbar nach dem Pogrom verfaßt, wiesen ebenfalls häufig auf die Ablehnung des Pogroms und Hilfsbereitschaft der „christlichen"oder „ansehen '' Nachbarn hin. Vier Hauptmotive für die Mißbilligung des Pogroms lassen sich aus den gemeldeten Reaktionen erkennen: Ärger über die durch den Pogrom verursachten materialen Verluste; Scham über die „Kulturschande", die den Namen Deutschland in aller Welt beschmutzt hatte; Furcht vor den möglichen internationalen Konsequenzen und, nicht zuletzt, menschliches Mitleid. Eine ,,sinnlose Zerstörung von Sachwerten " Die Mischung von Motiven kommt in einem SD-Bericht über die Reaktionen auf den Pogrom in Kreisen der „liberalen1'Bourgeoisie zum Ausdruck: „ . . . die Aktionen gegen das Judentum im November (wurden) sehr schlecht aufgenommen. . . Die Kritik war je nach der Einstellung des Einzelnen verschieden. Wirtschaftskreise wiesen auf den Schaden hin, der durch die Aktionen entstanden war, andere übten an den gesetzlichen Maßnahmen Kritik, und das gerade von der Kriegsangst befreite Bürgertum wies auf die gefährlichen Auswirkungen hin, die im Ausland entstehen könnten. Als sich dann die Reaktion des Auslandes in wüsten Hetzkampagnen und Boykottmaßnahmen äußerte, stimmten diese liberalistisch-pazifistischen Kreise dem Ausland zu und bezeichneten die getroffenen Maßnahmen als ,barbarischdund ,kulturlos'.Aus liberalistischer Grundhaltung heraus glaubten viele, offen für das Judentum 9) Michdel Muller-Claudius, Der Antisemitismus und das deutsche Verhangnis, FrankfurtIM 1948, S. 162-3 10) Zit. n. Allen, C. 399. 11) DBS, Bd. 5, C. 1204-5. 12) Ruth Andreas-Fnednch, Schauplatz Berlin, Munchen 1962, S. 19.

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eintreten zu müssen. Die Zerstörung der Synagogen wurde als unverantwortlich erklärt; man trat für die ,armen unterdrückten Juden' ein. . . " 13) Eine Mitteilung an den SOPADE-Vorstand aus Sachsen bezog sich ebenfalls hauptsächlich auf die Reaktionen beim Bürgertum. Der Berichterstatter, der selber bürgerlicher Herkunft und ohne Kontakt zur Sozialdemokratie war, der aber viele Verbindungen zu Wirtschaftsvertretern, Intellektuellen und Offizieren hatte, behauptete, er habe keinen Menschen in seinem Bekanntenkreis getroffen, der nicht entsetzt über die ,,Bestialitätudes Pogroms sei. Einige, darunter sogar höhere Beamte, hätten sich für die Juden eingesetzt, oft eine Unterkunft gewährt oder bei der Flucht ins Ausland geholfen. Das Gefühl von „Kulturschande" beeinflußte offensichtlich die Reaktionen des Berichterstatters und dessen Bekannten. Die sinnlose Zerstörung von Werten gehörte aber auch zur starken Mißbilligung der „Aktionu.Es sei für den Berichterstatter nur logisch, „wenn sich jetzt die breite Masse des Volkes weigert, weiter leere Zahnpastatuben und Sardinenbüchsen zu sammeln, wenn sie mit zusehen muß, wie die Verantwortlichen selbst eine derartige sinnlose Massenzerstörung von Werten anordnen" 14). Den gleichen Gedanken hob ein bayerischer Polizeiberichterstatter hervor. Er meinte, sicherlich übertreibend, daß niemand etwas gegen die Beschädigungen der Synagogen gehabt habe, „wohl aber gegen die Zertrümmerung der Auslagenfenster und der sonstigen Einrichtungen, die letzten Endes auch wieder deutsche Volksvermögen sind und die Zertrümmerung dem Sinne des Vierjahresplanes widerspricht. Auf der einen Seite müssen Staniolpapier und leere Zahnpastatuben gesammelt werden, und auf der anderen Seite werden planmäßig Millionenschäden verursacht " 15). ,,Eine weitgehende judenfeindliche Volksstimmung muß erzeugt werden, um die Basis für den anhaltenden Angriff und das wirksame Zurückdrängen zu bilden", hatte ein SD-Bericht über „dasJudenproblem" schon im Januar 1937 gelautet. „Daswirksamste Mittel, um den Juden das Sicherheitsgefühl zu nehmen", hieß es weiter, „ist der Volkszorn, der sich in Ausschreitungen ergeht"l6).Die Reaktionen auf das Pogrom zeigen aber deutlich die Resistenzfähigkeit großer Teile der Bevölkerung gegenüber den extremsten Erscheinungen des vulgären Judenhasses. Nach dem Urteil des SD war die Ablehnung des Pogroms stärker im katholischen, städtischen, dicht besiedelten Süden und Westen des Reiches (mit Ausnahme der ,,Ostmarku)als im protestantischen, überwiegend agrarischen Norden und Ostenl?). Trotz solcher geographischen, sozialstrukturellen und konfessionell bedingten Unter13) Heinz Boberach (Hrsg.),Meldungen aus dem Reich (im folgenden: MadR) 17 Bdi?.,Herrsching 1984, Bd. 2, C. 73. 14) DBS, Bd. 6, S. 9-10. 15) Staatsarchiv Amberg, BAAmberg 2399, Bericht der Gendarmerie-Station Hirschaiivom 23. November 1938. 16) Zit. n. Otto Dov Kulka, ,.Public Opinion" in National Socialist Germany and the ,,Jewish Question", in: .ZionU40, 1975, S. 274. 17) MadR, Bd. 2 . S. 73.

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schiede geht aus den Reaktionsweisen der Bevölkerung deutlich hervor, daß die giftigen Hetzkampagnen der NS-Propaganda nicht vermocht hatten, eine echte Pogromstimmung zu erzeugen. Die Durchdnngungskraft der Propaganda an dieser zentralen Stelle der NS-Ideologie hatte sich als begrenzt erwiesen: christliche Werte (selbst ohne Lenkung durch die Kirchen, die trotz der Tapferkeit von einzelnen Pfarrern bekanntlich den Pogrom mit keinem offiziellen Wort verurteilten), liberal-humane Traditionen und bürgerliche Tugenden wie Ordnungssinn und Kulturgefühle zeigten sich immer noch relativ resistent gegenüber dem Nazi-Radauantisemitismus. Gegenstand der Ablehnung und des Abscheus war allerdings nicht die NSJudenpolitik als solche, sondern die bestimmte pöbelhafte, pogromartige Form des Antisemitismus und, damit verbunden, die Vernichtung des „ Volksvermögens ". Eine Ablehnung des Pogroms ließ sich mit einer grundsätzlich judenfeindlichen Haltung völlig vereinbaren. Die Methode, nicht aber das Ziel der NS-Judenpolitik - meistens wohl zu dieser Zeit als erzwungene Emigration und Schaffung eines „judenreinenUDeutschlands verstanden - wurde verurteilt. „Hitler will zwar, daß die Juden aus Deutschland verschwinden, aber er will doch nicht, daß sie totgeschlagen und so behandelt werden", wurde von einem Berliner SOPADE-Berichterstatter als Redensart, die nach wie vor Eindruck machte, vernommen18). ,,GesetzLiche Regelungen " finden volles Verständnis

Genau wie 1935 die Nürnberger Gesetze trotz der Ablehnung brutaler „Einzelaktionen" weitgehend auf die Zustimmung gestoßen waren, gibt es 1938 wenige Anzeichen dafür, daß die drakonische aber ,,legaleHGesetzgebung, die in den Tagen nach der „Reichskristallnacht" die Juden aus der Wirtschaft ausschloß, negativ aufgenommen wurde. Vielmehr konstatierten die gleichen Berichte, die die Verurteilung des Pogroms meldeten, „Zustimmung", „Verständnis " und „Befriedigung" gegenüber den ,,legalen" Maßnahmen. Der SD faßte es folgendermaßen zusammen: „ImZusammenhang mit den Novemberereignissen muß festgestellt werden, daß die im Rahmen der Judenaktion erfolgte Vernichtung großer volkswirtschaftlicher Werte von weiten Kreisen der Bevölkerung nicht gebilligt wurde! Dagegen hat die im Anschluß daran erfolgte gesetzliche Regelung volles Verständnis gefunden."lg)Die Ablehnung des archaischen „Pogromantisemitismus" (den ja Hitler selber schon 1919 als unzureichende Lösung des „ Judenproblems " betrachtet hatte) ging mit der breiten Akzeptanz des ,,rationalenu Antisemitismus, dessen Vormarsch eben durch die negativen Reaktionen auf den Pogrom stark gefördert wurde, völlig einher.

18) DBS, Bd. 5, C. 1209

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NS-Reaktionen auf die Volksmeinung Selbst innerhalb der Nazi-Führung stieß der Pogrom wegen der sinnlosen Vernichtung von Sachwerten, aber auch wegen der unnötigen Entfremdung großer Teile der Bevölkerung, auf scharfe Kritik. Daß Hitler unmittelbar nach der „Reichskristallnacht" sich gegen die Einführung des Kennzeichens für Juden aussprach, läßt sich wohl auf die negativen Reaktionen der Bevölkerung auf den Pogrom zurückführen. Die von den Machthabern aus den Wirkungen des Pogroms gezogene Lehre spiegelte sich ebenfalls wider in einer Anordnung des Stellvertreters des Führers Rudolf Heß sofort nach dem Attentat auf Hitler im Bürgerbräukeller im November 1939, genau ein Jahr nach der „Reichskristallnacht", in der eine Wiederholung des Pogroms streng verboten wurde. Nach der „Reichskristallnacht" wurde die Provozierung weiterer Kritik innerhalb Deutschlands durch eine ungeschickte Judenpolitik vermieden. Offene Brutalitäten verlegte man nach Kriegsbeginn in die besetzten Gebiete Polens. Zu Hause wurden die weiteren Schritte in der nun von der SS gesteuerten Judenpolitik möglichst unauffällig unternommen. Seitens der Nazi-Führung führte die ,,Reichskristallnacht " zu der Einsicht, die deutsche Bevölkerung sei nicht „reif " genug, nicht ,,hartu genug, zu ungeschult oder zu unzuverlässig, um das nötige Verständnis für ,,radikale" Maßnahmen gegen die Juden aufzubringen. Diesem Eindruck entsprechend wurde in den darauffolgenden Jahren der Versuch gemacht, durch verstärkte antijüdische Propaganda die Bevölkerung auf die erbarniungslose Behandlung der Juden im Reich und in den besetzten Gebieten vorzubereiten, gleichzeitig aber die Judenpolitik unter strengster Geheimhaltung durchzuführen. Die Reaktion der Bevölkerung: Rückzug ins Private Seitens der Bevölkerung führte die „Reichskristallnacht" zu noch größerer Einschüchterung. Zu dieser Erkenntnis der objektiven Funktion des Pogroms gelangte der SOPADE-Vorstand in einem einsichtsvollen Bericht über die ablehnende Haltung der Bevölkerung: „Oft wird die Frage gestellt: ,Wer kommt nach den Juden an die Reihe?' -Man muß sich allerdings - wie groß die allgemeine Empörung auch sein mag - darüber klar werden, daß die Brutalitäten der Pogromhorden die Einschüchterung gesteigert und in der Bevölkerung die Vorstellung gefestigt haben, jeder Widerstand gegen die uneingeschränkte nationalsozialistische Gewalt sei zwecklos. " 19) Die langfristige Bedeutung der „Reichskristallnacht" war deswegen zweifach. Der Pogrom markierte das Ende einer „populistischen"Judenpolitik und den Übergang zu einem ,,rationalenu Kurs unter Ausschaltung der deutschen Öffentlichkeit. Er verstärkte außerdem die Tendenz bei der nicht-jüdischen Bevölkerung, die ohnehin schon weitgehend vorhanden war, sich ins Private 19) MadR, Bd. 2, C. 172-3

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zurückzuziehen und alles, was das Schicksal der Juden berührte, bewußt oder unbewußt auszuschalten oder zu verdrängen. Es spricht Vieles für die Behauptung, daß die „ Judenfrage ", trotz ihrer Zentralität in der NS-Weltanschauung, von Anfang an nur eine untergeordnete Bedeutung für die überwiegende Mehrzahl der nicht-jüdischen Bevölkerung hatte. Freilich schloß dies eine antisemitische Grundhaltung und Zustimmung für eine diskriminierende Politik keineswegs aus. Aber für das alltägliche Leben der meisten Leute war die ,,Judenfrage1'oft belanglos und ohne konkrete Bedeutung. Das einzige Mal, in dem die „Judenfragenunmittelbar im Brennpunkt des Interesses stand, war nach der ,,Reichskristallnacht ". Das Interesse an dem Schicksal der Juden flaute aber rasch wieder ab. Die apathische Passivität, die die Haltung der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung gegenüber der Judenverfolgung von vornherein gekennzeichnet hatte, wurde nur momentan durch die Brutalität des Pogroms gerüttelt. So deutlich das Regime die Antipathie großer Teile der Bevölkerung gegenüber dem Pogrom gespürt hatte, ließen doch die Terror-Aktionen selber und die darauffolgenden Maßnahmen keine Zweifel aufkommen über die uneingeschränkte Rücksichtslosigkeit der Machthaber in der Durchsetzung ihrer Judenpolitik. Bei der Minderheit, die bis dahin Zeichen eines „judenfreundlichen " Verhaltens aufzuweisen hatte, verstärkte sich nun angesichts des zügellosen Nazi-Terrors das Gefühl der Hilflosigkeit, während die Gefahren der „ Judenfreundlichkeit " jedem unübersehbar waren. Die „Reichskristallnacht" hatte die nackte Brutalität des Regimes klar vor Augen gestellt und gleichzeitig die volle Einflußlosigkeit der mißbilligenden Volksmeinung hell beleuchtet. Selbst ein mittelbarer Einfluß der Volksmeinung im Dritten Reich konnte praktisch nur in Fällen geschehen, in denen eine kritische Stimmung durch Machtträger innerhalb des Machtapparats aufgenommen oder durch die christlichen Kirchen artikuliert wurde. In der „Judenfrage" kamen prinzipielle Einwände der nicht-nationalsozialistischen konservativen Eliten, die ohnehin selber weitgehend antisemitisch eingestellt waren, selbstverständlich nicht in Frage. Und die christlichen Kirchen hielten an ihren eigenen Prioritäten fest. Ein offener Protest wäre höchstwahrscheinlich vergeblich gewesen, obwohl fast drei Jahre später der Protest gegen die „Euthanasieunicht ohne Wirkung auf die Nazi-Führung blieb. Aber auf jeden Fall versäumten die Kirchen mit ihrem offiziellen Schweigen zur „Reichskristallnacht" die günstigste Gelegenheit, die Nazi-Barbarei gegen die Juden vor der deutschen Offentlichkeit und vor aller Welt unverblümt zu verdammen. Der Krieg förderte die apathische Passivität: Man wollte nichts wissen In den Kriegsjahren wurden die schlimmsten Greueltaten gegen die Juden, die im Genozid kulminierten, möglichst geheim und weit entfernt von den dicht besiedelten Gebieten des Altreiches begangen. Der Krieg selber, vor allem der

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Weltanschauungskrieg gegen die Sowjetunion, brachte eine Verhärtung der Einstellung zu den Juden und teilweise eine Steigerung des Judenhasses. Aber die Haltung der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung blieb nach wie vor eher passiv und apathisch. Während die Juden millionenfach im Osten ermordet wurden, beschäftigte sich die deutsche Bevölkerung meistens mit anderen Dingen. Man wurde durch die Alltagssorgen des Krieges voll in Anspruch genommen. Die existentiellen Ängste und Nöte des Krieges förderten ohnehin den „Rückzugins Private " . Und schließlich war das Schicksal der Juden ein unattraktives und unergiebiges Thema. Schauderhafte Erzählungen von Familienangehörigen und Freunden an der Ostfront, die oft konkrete, detaillierte, unleugbare Informationen über Massenerschießungen von Juden enthielten, waren weitverbreitet. Jeder, der etwas über das Schicksal der Juden wissen wollte, konnte feststellen, daß Dinge unvorstellbarer Grausamkeit im Gang waren. Meistens wollte man aber nichts wissen. Man fragte lieber nicht nach, schloß die Augen, hörte nicht zu, zuckte die Achsel. „Ich möchte lieber nicht davon sprechen. Es ist gar nicht möglich, sich eine Meinung darüber zu bilden. " „Esist zu riskant, darüber zu sprechen, und einen Einfluß auf diese Dinge hat doch niemand. " „Es hat keinen Zweck, sich Gedanken darüber zu machen. Die Entscheidung hat Hitler allein. " „Nehmen Sie lieber eine Zigarette. Ich bin 12 Stunden am Tag beschäftigt und kann mich nicht auch noch damit befassen." „Mir steht der Krieg bis zum Hals. Ich will geordnete Verhältnisse. Welche Rolle dabei die Juden spielen, ist nicht meine Sache. " Solche Antworten erhielt Michael Müller-Claudius 1942 bei seinen Gesprächen: „. . . und das jüdische Problem ist immer noch nicht geklärt. Man hört gar nichts davon, wie die Lösung gedacht sein mag. . . " Er nannte diese vorherrschende Reaktionsgattung die ,,Indifferenz des gewissen^"^^). Die Reaktionen der Bevölkerung auf die ,,Judenfragel' konnten unter den gegebenen Umständen des Dritten Reiches nur teilweise und höchstens indirekt einen Einfluß auf die Aktionen der Machthaber ausüben. Die „Reichskristallnacht" -und davor die mangelhafte Resonanz des Boykotts 19.33sowie die Kritik an den ,,EinzelaktionenUim Jahre 1935 - stellen fast die einzigen Beispiele eines solchen mittelbaren Einflusses der Volksmeinung auf die Judenpolitik dar. Danach fehlte realistisch gesehen jede Möglichkeit, den weiteren Verlauf der zunehmend völkermörderischen Praxis der ,ludenverfolgung zu beeinflussen. Es gab keinen Gegensatz zwischen der NS-Judenpolitik und den Wünschen der Bevölkerung Trotzdem wäre es verfehlt, deswegen von einem Gegensatz zwischen den Zielen der NS-Judenpolitik und den Wünschen der Bevölkerung auszugehen. 20) DBS, Bd. 5, C. 1205; vgl. auch S. 1206-7 21) Müller-Claudius, S. 166-8.

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Freilich offenbart die Absicht, die ,,Endlösungustreng geheim zu halten, einen Beweis dafür, daß die NS-Führung den Reaktionen der deutschen Bevölkerung auf den Massenmord mißtraute. Die physische Vernichtung der Juden entsprach sicherlich keiner allgemeinen Wunschvorstellung bei der überwiegenden Masse der Bevölkerung. Gleichwohl wären die letzten Stufen zum Genozid nicht möglich gewesen ohne die vorherige schrittweise Diskriminierung und Verfolgung, die sich unter passiver Tolenerung wenn nicht gar aktiver Zustimmung und Kollaboration der Öffentlichkeit vollzogen hatte. Insofern vereinfacht man das komplexe dichotomische Verhältnis zwischen dem Tolerierungsgrad des „alltäglichen" Antisemitismus und dem zunehmend autonom werdenden dynamischen Judenhaß des Regimes, wenn man behauptet, die Juden seien „gegen den Willen des deutschen Volkes " ermordet worden221. Eher könnte man sich dem Gedanken anschließen, mit dem Leo Kuper das Kapitel über die Judenvernichtung in seiner komparativen Studie über Genozid beendete: ,,Es bleibt einem die besorgniserregende Uberlegung, daß es vielleicht wenig Widerstand gegen die Komplizenschaft mit dem Genozid gab, daß der Genozid dem gesellschaftlichen Menschen keineswegs fremd ist, und daß viele Züge der gegenwärtigen ,zivilisierten' Gesellschaft den leichten Rekurs zu einem genozidalen Holocaust fördern. "23)

Schlußstrich-Mentalität Bitburg, Waldheim und Höfer oder: Über den Umgang mit Vergangenheit Von Monika Hübsch-Faust 55 Jahre sind vergangen seit Hitlers sogenannter „Machtergreifung" ,50 Jahre seit der sogenannten „Reichskristallnacht" und inzwischen 43 Jahre seit der Beendigung des Zweiten Weltkrieges. Jahre, in denen die historische Forschung nicht untätig war, aber auch Jahre, in denen immer wieder die Relevanz dieser braunen Vergangenheit für aktuelle politische Gegenwart sicht22) Allen, S. 409. 23) Leo Kuper, Genocide. Its Political Use in the Twentieth Century, Harmondsworth 1981, S. 137

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