Geschichte und Ethik

April 2, 2017 | Author: Hannah Heinrich | Category: N/A
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1 Raphael Gross /Werner Konitzer Geschichte und Ethik Zum Fortwirken der nationalsozialistischen Moral I Deutschland ist...

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Raphael Gross /Werner Konitzer

Geschichte und Ethik Zum Fortwirken der nationalsozialistischen Moral I Deutschland ist ein moralisches Land. Nicht nur die Verbrechen der Nationalsozialisten, sondern auch die Erinnerungen an sie werden ständig moralisch beurteilt. Die moralische Interpretation der nationalsozialistischen Verbrechen ist so alt wie die Verbrechen selber. Schon die Täter haben sich darum bemüht, eine moralische Haltung gegenüber den Verbrechen zu finden; ein erschreckender Beleg dafür ist die Rede Himmlers an eine Versammlung von SS-Gruppenführern.1 Die meisten überzeugten Nazis hielten sich selber nicht für Verbrecher – auch nicht nachträglich. Sie fügten sich ohne besondere Anstrengung in die Ordnung eines parlamentarischen Verfassungsstaats oder die der Deutschen Demokratischen Republik ein. Hier wirkten sie als treusorgende Ärzte oder Anwälte, unparteiische Richter, begabte Professoren und sogar als führende Kommentatoren des Bonner Grundgesetzes.2 Das Ausmaß dieser überwältigenden Integrationsleistung ist in der Öffentlichkeit der Bundesrepublik Deutschland, trotz sporadischer Skandale, wenig bekannt.3 Das hat verschiedene Ursachen: Am Anfang stand sicher die gezielte Verleugnung des Geschehenen – heute wird diese durch breite Unkenntnis der in den 50er Jahren vollzogenen Integration von NSVerbrechern abgelöst. Gerade darum ist es wichtig, die Tradierung nationalsozialistischer Ideen und Denkmuster in die Bundesrepublik zu verstehen. Dies gilt insbesondere für denjenigen Bereich, der mit dem Nationalsozialismus am wenigsten in Verbindung zu stehen scheint, die Lehre vom Guten und Bösen – die Ethik.

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»Von Euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen zusammenliegen, wenn 500 Leichen daliegen oder wenn 1000 daliegen. Dies durchgehalten zu haben und dabei, abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwächen, anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht.« Heinrich Himmler am 4. Oktober 1943 in Posen vor SSGruppenführern; IMT 29, 110-73, 1919-PS. Vgl. Richard Breitmann, Himmler and the Final Solution. The Architect of Genocide, London 1991, S. 242 f. Breitmann unterstreicht diese moralische Haltung, indem er das letzte Kapitel dieser Monographie mit dem Satz beschließt: »The architect of mass murder remained in his own eyes a moralist to the end.« (S. 243) 2 Vgl. Michael Stolleis, »Theodor Maunz – Ein Staatsrechtslehrerleben«, in: Ders., Recht im Unrecht. Studien zur Rechtsgeschichte des Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 1994, S. 306–317. 3 Grundlegend: Norbert Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996.

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Manche glauben, Deutschland sei durch seine Geschichte eine besondere moralische Verantwortung erwachsen, denn durch den Holocaust hätten sich die ethischen Normen der Gesellschaft verändert. Dieser Einfluß von Geschichte auf Ethik habe wiederum an bestimmten Stellen eine erhöhte Verantwortlichkeit geschaffen. Man gewinnt den Eindruck, hier würde behauptet, in Deutschland sei nach dem Holocaust eine höhere Form der Moral entstanden. Tatsächlich verändern historische Ereignisse keine ethischen Normen: Der Holocaust hat keine neue Ethik hervorgebracht, genau sowenig wie irgendein anderes historisches Ereignis.4 Der Holocaust wurde aber durch eine ganz bestimmte radikale Form einer partikularen Ethik erst ermöglicht. Diese partikulare Ethik zeichnet sich vor allem durch brutale Diskriminierung derjenigen Menschen aus, die nicht zur »arischen« Volksgemeinschaft gezählt werden: die Diskriminierung der Juden und aller anderen »Gemeinschaftsfremden«.5 Die Mechanismen und Begriffe, die diese aggressive partikulare Ethik bestimmen, sind mit dem Ende des NS-Staates weder alle einfach fortgesetzt worden noch plötzlich verschwunden. Über die NS-Geschichte werden in Deutschland fortwährend Kontroversen ausgetragen.6 Anlaß dazu boten die Nürnberger Prozesse, der Frankfurter Auschwitz-Prozeß, der Holocaust-Film, der Historikerstreit, die Ausstellung über die Verbrechen der Wehrmacht, das Buch von Daniel J. Goldhagen über Hitlers willige Vollstrecker, die Mahnmaldebatte und zuletzt Martin Walsers Friedenspreisrede in der Frankfurter Paulskirche. Grob können drei Ebenen unterschieden werden, auf welche sich diese Konflikte beziehen: die faktisch richtige Rekonstruktion des Geschehens, ihre moralisch richtige Beurteilung und schließlich das der Geschichte angemessene Gedenken und Erinnern. Es ist von der Sache her unmöglich, die drei Ebenen getrennt voneinander zu analysieren, obgleich dies aus verschiedenen Überlegungen heraus immer wieder gefordert wird. Häufig wird versucht, den Konflikt, der in einer der drei Ebenen auftritt, dadurch zu entschärfen, daß man behauptet, man habe aneinander vorbeigeredet, der eine habe nur von der Darstellung der

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Obwohl wir in diesem Artikel zwischen einer universalistischen und einer partikularistischen Ethik unterscheiden, gehen wir davon aus, daß letztlich nur Normen, die für alle Menschen gelten (also universell sind), moralisch begründet werden können. Wir teilen daher nicht die verbreiteten kulturalistischen und historizistischen Relativierungen der Ethik. 5 Zur alltäglichen Diskriminierungspolitik im Inneren: Detlev Peukert, Volksgenossen und Gemeinschaftsfremde. Anpassung, Ausmerze und Aufbegehren unter dem Nationalsozialismus, Köln 1982; Diemut Majer, Grundlagen des nationalsozialistischen Rechtssystems: Führerprinzip, Sonderrecht, Einheitspartei, Stuttgart 1987. 6 Jeffrey Herf, Zweierlei Erinnerung, Die NS-Vergangenheit im geteilten Deutschland, Berlin 1998. Einen Überblick bis in die 70er Jahre gibt: Axel Schildt, »Der Umgang mit der NS-Vergangenheit in der Öffentlichkeit der Nachkriegszeit«, in: Wilfried Loth, Bernd-A. Rusinek (Hrsg.), Verwandlungspolitik. NS-Eliten in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft, Frankfurt am Main 1998, S. 19–54.

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Erinnerung gesprochen und damit überhaupt nichts über die moralische Interpretation sagen wollen oder umgekehrt. Wenn die Konflikte sich nicht mehr auf diese Weise zu klären scheinen, wird behauptet, daß sich die Geschichtsschreibung über den Nationalsozialismus dagegen sperre, von einer Geschichte zu sprechen. Es bietet sich dann an, Geschichtsschreibung in eine »Opfer-« und eine »Täterperspektive« aufzuteilen. Dabei geht es nicht einfach darum, welche Quellen herangezogen werden, ob man die Geschichte der Vernichtungslager beispielsweise auf die Standortbefehle der SS in Auschwitz oder auf Zeugnisse und Romane von Überlebenden – etwa diejenigen Primo Levis – stützt. Meist wird vielmehr davon ausgegangen, daß die Historiker selber verschiedene Perspektiven an die Quellen herantragen. Aber auch durch den Versuch, die Geschichte in »Perspektiven« aufzuteilen, lassen sich Konflikte nicht verhindern: Immer dann, wenn eine Seite der anderen vorhält – oder wenn eine Seite den Eindruck erhält, ihr werde vorgehalten –, ihr Erfahrungshorizont würde zu einer prinzipiellen Unfähigkeit führen, bestimmte historische Vorgänge gerecht zu beurteilen, kommt es zum Konflikt. Dem anderen wird dabei die Fähigkeit abgesprochen, eine historische Situation moralisch richtig zu beurteilen, da er entweder selber nicht in derselben gewesen sei oder nicht in der einen oder anderen Weise mit denjenigen Menschen solidarisch sei, die sich in derselben befunden haben.7 II Moralische Normen begrenzen unseren Freiheitsspielraum.8 Daß wir diesen Normen folgen sollen, heißt, daß wir nicht alles, was wir tun können, auch tun dürfen. Von einfachen Spielregeln unterscheiden sie sich einmal dadurch, daß wir nicht wählen können, ob wir uns ihnen unterwerfen oder nicht. Ein Schachspieler, der die Rochade nicht akzeptieren will, kann das Spiel einfach beenden. Eine Frau dagegen, die in einer patriarchalischen Gesellschaft aufwächst und deren Normen verletzt, wird mit den entsprechenden Sanktionen konfrontiert, ob sie will oder nicht. Moral ist insofern ein System, das alle einschließt.

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Vgl. Martin Broszat und Saul Friedländer, »Um die › Historisierung‹ des Nationalsozialismus. Ein Briefwechsel«, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 36, 1988, S. 339–372. In dieser wichtigen Historikerkontroverse rührt der hohe Emotionalitätsgrad vor allem daher, daß Broszat Friedländer abspricht, oder jedenfalls Friedländer aus Broszats Äußerungen schließt, er könne als Jude eine angemessene – also die Fakten richtig und gerecht beurteilende – Geschichte des Nationalsozialismus schreiben. Friedländer kehrte das Argument um, indem er sagte, man könne genauso behaupten, Broszat könne als Vertreter der HJ-Generation keine gerechte Beurteilung der NS-Geschichte leisten. 8 Die folgenden Überlegungen zu partikularer und universaler Ethik stützen sich vor allem auf Ernst Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, Frankfurt am Main 1993, und die kritische Weiterführung in: ders., Dialog in Leticia, Frankfurt am Main 1997. Zu historischer Gerechtigkeit zentral: Lukas H. Meyer, Unsere Verantwortung? Pflichten Unbeteiligter aufgrund historischen Unrechts, Bremen 1999 (Manuskript).

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Zum moralischen Handeln gehört, daß wir uns aus eigenem Antrieb heraus einschränken. Würden wir nur deshalb unseren Freiheitsspielraum einengen, weil wir glauben, daß damit für uns positive Folgen verbunden sind, so würde niemand sagen, daß wir moralisch handeln. Wer einer Norm nur deshalb folgt, weil andere ihn mit Gewalt dazu zwingen, wird nicht zu der entsprechenden moralischen Gemeinschaft gezählt. Er folgt den Normen in dieser Situation nur deshalb, weil er sich davon einen unmittelbaren Vorteil verspricht. Dem entspricht, daß ein moralisch Handelnder in bestimmten Situationen gegen seine Neigung den moralischen Gesetzen folgt. Beide Kriterien, daß jemand nicht den Imperativen von Gewalt und Zwang folgt und daß er nicht allein seinen Neigungen entsprechend handelt, sind maßgeblich dafür, daß wir jemanden als einen moralischen Menschen anerkennen. Er läßt erkennen, daß er von den Neigungen und Zwängen des Augenblicks Abstand nehmen kann. In diesem Sinn ist er selbstbestimmt, das heißt, innerlich und äußerlich frei. Wir drücken diesen Sachverhalt auch so aus, daß wir sagen: Dieser Mensch folgt einer »inneren Instanz«, eben seinem Gewissen. Die Tatsache allein, daß einer nach einem inneren Gesetz handelt, reicht aber noch nicht dafür aus, daß wir ihn als moralisch Handelnden bezeichnen. Ein Arzt etwa, der es sich zum Lebensprinzip gemacht hat, mit allen Mitteln eine bestimmte Art von Pilzen zu bekämpfen und deren Träger auszurotten, mag von sich selbst glauben, ein Gewissen zu haben. Bestimmt handelt er auch irgendwie nach einem inneren Gesetz. Er ist aber kein moralisch Handelnder, sondern einfach ein von einer bestimmten Idee Besessener. Eine Moral ist immer ein mit zumindest einigen anderen Menschen geteiltes Normensystem, und damit hängt auch zusammen, daß nicht einfach irgendein Gesetz als das moralische gewählt werden kann. Gewissen ist also nicht schlicht eine »innere Stimme«, die jeder einzelne in sich hat. Vielmehr handelt es sich um ein System moralischer Gefühle, Gefühle, die wir wechselseitig fordern und erwarten. Sie binden uns an Handlungsnormen. Auf der Ebene des persönlichen Verhaltens entsprechen sie den positiven und negativen Sanktionen des Rechts. Als moralische Gefühle sind sie an Individuen gebunden. Ich fühle mich gut, wenn ich gut gehandelt habe, und empfinde Gefühle der Schuld oder Scham, wenn ich schlecht gehandelt habe, bzw. ich entwickle Gefühle der Empörung, wenn ich Zeuge einer Unrechtshandlung geworden bin. Gefühle der Empörung und Scham entwickeln Menschen aber auch oft in bezug auf Handlungen, die sie bei näherer Betrachtung nicht direkt als unmoralisch bezeichnen würden. Jemand trägt bei einer Einladung nicht den passenden Anzug oder er schlürft die Suppe, anstatt sie zu löffeln, oder er hält seinen Vorgarten nicht so in Ordnung, wie es in dem entsprechenden Stadtteil Sitte ist. Gegenüber den moralischen Normen wirken solche Normen des Anstandes oder der Sitte eigentümlich unbe-

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gründet. Sie könnten an einem anderen Ort zu einer anderen Zeit auch ganz andere sein. Dagegen ist die Aussage »Du sollst nicht töten« keine Konvention, von der wir glauben, daß sie zufällig nur gerade hier und jetzt gilt. Auch die meisten von denen, die meinen, daß moralische Prinzipien sich nicht begründen lassen, empfinden diesen Unterschied zwischen einer bloßen Konvention und einer begründeten moralischen Pflicht. Worin besteht aber diese Begründung? Warum sollen wir moralischen Normen folgen und nicht schlicht unser Interesse oder unsere Einfälle verwirklichen? Eine Zeitlang – und das gilt heute noch für viele Menschen – bestand die Begründung darin, daß man darauf verwies, daß diese Normen von Gott gegeben oder irgendwie anders durch ein höheres Prinzip zu rechtfertigen seien. Dabei war es möglich, daß man glaubte, daß dieses Prinzip sowohl Abstufungen nach innen wie Begrenzungen nach außen vorschreibe. Die an sich unbegrenzte Geltung der moralischen Normen wurde dadurch auf eine bestimmte Gruppe von Menschen begrenzt. Eine solche Moral war partikular, nicht universell. Nach innen hin waren die Normen entsprechend oft so bestimmt, daß den einzelnen je nach sozialer Gruppe oder nach Geschlecht ungleiche Rechte und Pflichten zugesprochen wurden. Der Partikularismus nach außen wurde so durch einen Inegalitarismus nach innen ergänzt. Diese Begründungsform aber kann nicht mehr maßgeblich sein, sobald es viele Menschen gibt, die nicht an einen Gott glauben, oder zwischen denen keine Übereinstimmung besteht, da sie in verschiedenen Formen heutiger Religiosität an ein anderes höheres Prinzip glauben. Eine Norm moralisch begründen heißt daher heutzutage, sie jedem gegenüber einsichtig zu machen, indem

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man zeigt, daß es im Interesse eines jeden liegt, nicht nur ihr je und je zu folgen, sondern ihre Befolgung durch die Einbindung in das System der wechselseitigen moralischen Gefühle mit abzusichern.

Partikulare und universelle Moralsysteme unterscheiden sich zunächst dadurch, daß im einen Fall der Geltungsbereich der moralischen Normen auf eine bestimmte Gruppe begrenzt, im anderen aber unbegrenzt ist. Sie unterscheiden sich oft aber auch dadurch, daß die Verletzung der Norm verschieden geahndet wird, daß also die moralischen Gefühle anders fungieren. In einer traditionellen Moral ist Gott gewöhnlich nicht nur das höhere Prinzip der Normenbegründung, er ist auch diejenige Person, der gegenüber man sich für die Verletzung der Norm schuldig fühlt oder schämt, an die man sich mit seiner Empörung oder seinem Groll zunächst richtet. Insofern ist der Glaube an einen Gott mit einem System universeller Moral vereinbar, es kann sogar sein, daß dem Gottesbegriff in einem partikularen System für die als moralische Person Ausgeschlossenen noch eine Schutzfunktion zukommt. Man kann den Nationalsozialismus als eine besondere Form eines partikularen Moralsystems verstehen. Wie unsere heutige Moral stützte er sich auf ein System von Schuld, Groll und Empörung. Wie sie setzte er auf

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die Verinnerlichung von Normen. Und wie sie war er auf Begründung angewiesen. Daher setzte er wie die traditionellen Moralen auf die Begründung durch ein höheres Prinzip. Er entstand in einer Situation, in der die Begründungsprinzipien traditioneller moralischer Begründungsformen schon unglaubwürdig geworden waren. Von Anfang an war er bestrebt, in das moralische Bewußtsein die Bevorzugung einer bestimmten Gruppe einzuschreiben und damit andere Gruppen entweder zu benachteiligen oder vollends auszuschließen. Die Bevorzugung einer Gruppe war sogar so sehr in sein System eingebaut, daß die Einteilung der Menschheit in Rassen selbst das höhere Prinzip abgab, auf das die einzelnen Handlungen und Normen sich beziehen sollten. Während es bei den traditionellen Moralen also die Einsicht in die Existenz des höheren Prinzips war, die zumindest theoretisch jedem den Zugang zur moralischen Gemeinschaft ermöglichte, verzichtete der Nationalsozialismus vollständig auf die Begründung gegenüber denen, die er ausschloß, und setzte an dieser Stelle von Anfang an auf Gewalt. Und während bei den traditionellen Moralen dasjenige, dem gegenüber man sich vor allem schämte oder schuldig fühlte, an das man sich in seinem Groll wandte und das man in seiner Empörung zum Zeugen und Helfer anrief, ein Gott war, also etwas, was über der Gemeinschaft stand, bezogen sich diese Gefühle im Nationalsozialismus auf diese besondere Gemeinschaft selbst bzw. auf deren Repräsentanten, den Führer. Wer die Normen verletzte, mußte Schuld vor allem gegenüber dieser Gemeinschaft empfinden. Der Nationalsozialismus entstand, als das christliche Wertesystem seine allgemeinverbindliche Geltung verloren hatte. Die Beschränkungen auf einen bestimmten Kulturkreis, die mit dem christlichen System mehr oder weniger verbunden waren, waren in dieser Situation schon lange nicht mehr selbstverständlich. Der Standpunkt einer universellen Moral wäre daher der naheliegende gewesen. Die Unbegründetheit des Nationalsozialismus – als eines Normensystems – war daher jederzeit einsehbar. Der Unhaltbarkeit seiner moralischen Begründungen entsprach die Gewalttätigkeit, mit der er sich durchsetzte. Dennoch vermochte es der Nationalsozialismus, sich in großem Maße als ein intersubjektiv geteiltes Normensystem durchzusetzen, an das sogar einige der von ihm Benachteiligten glaubten. Ohne die Bindungskraft moralischer Gefühle hätte er nicht existieren können. Charakteristisch für ihn ist daher gerade nicht das teilnahmslose Zuschauen, das Billigen, das fraglose Gehorchen und der Glaube an Hierarchien, der autoritäre Systeme überall auf der Welt kennzeichnet. Ob wirklich alle Täter immer davon überzeugt waren, in ihren Verbrechen einer inneren Überzeugung zu folgen, ist letztlich unerheblich, insofern als sie sich jedenfalls alle so verhielten, als ob dem so sei. Charakteristisch für den Nationalsozialismus sind daher die Begeisterung und die innere Überzeugung, mit der viele ihm gefolgt sind. Selbst in Situationen, in denen das eigene Interesse es nahegelegt hätte,

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anders zu handeln, gehorchte eine große Zahl der Deutschen bereitwillig den Imperativen von Mord und Krieg. Indem sie sich wechselseitig durch das System einer partikularen Moral stützten, anstifteten und unter Druck setzten, halfen sie mit, die ungeheuren Verbrechen zu begehen, deren sie als einzelne nie hätten fähig sein können. Zwischen Tätern und Zuschauern wurde der Übergang fließend. Diejenigen, die die Verbrechen aktiv durchführten – und auch das waren nicht wenige –, konnten so von sich behaupten, daß sie ihre Verbrechen im Namen aller anderen begangen hatten. Alle – das war für sie selbstverständlich nur die Gruppe von Menschen, die ihre Moral mitzutragen bereit war – das waren alle »Deutschen«. III Ein Moralsystem ist tiefer in intersubjektiv eingeübte und subjektiv übernommene Verhaltensweisen, in Gefühle, spontane Beurteilungen und Reaktionsformen eingewoben als tagespolitische Überzeugungen. Es überlebt auf andere Weise. Aber es kann sich nur in der Praxis wechselseitig und öffentlich vorgeführten Urteilens ungehindert entfalten und tradieren. Fragen wir nach der Geschichte des moralischen Bewußtseins, so war auch in dieser Hinsicht das Jahr 1945 keine Stunde Null, andererseits aber war die Veränderung, die es brachte, auch nicht bedeutungslos oder nur oberflächlich. Die Wünsche, die der Nationalsozialismus zu befriedigen versprach – die Eliminierung der Juden aus der deutschen Gesellschaft, die Beseitigung von Parlamentarismus, Kommunismus und Pluralismus –, haben sich durch das von außen erzwungene Ende der Volksgemeinschaft nicht einfach in Luft aufgelöst. Ebensowenig verschwand das in der Kommunikation verankerte, für die Volksgemeinschaft bis dahin konstitutive System wechselseitiger Anerkennung oder Verachtung. Zunächst führte der Druck von außen nur dazu, daß das alte, partikulare System von Achtung und Verachtung nicht öffentlich weiterbestehen konnte. Gerade die Tatsache, daß viele Bewohner beider Teile Deutschlands sich scheinbar problemlos zu Musterschülern der Mächte entwickelten, in deren Einflußbereich sie gerade standen, zeigt die Wertunsicherheit. So übernahm man sehr schnell – teilweise, weil das alte System diskreditiert war, teilweise, weil der Druck von außen es erzwang – die moralischen Urteile der jeweils herrschenden Macht. Man übernahm sie für den öffentlichen Gebrauch, aber als ein Gebrauch moralischer Werte griff dieser auch ins Private hinein. Die moralischen Gefühle wurden in den schillerndsten Formen mehrdeutig, bei zunehmender Geordnetheit der äußeren Verhältnisse. Die Situation im kalten Krieg, in dem die Forderung nach allgemeinen Menschenrechten von beiden Seiten einseitig, also im Sinne einer partikularen Moral, ausgelegt wurde, war vermutlich besonders geeignet, beides zu transportieren: das Gefühl, moralisch richtig zu handeln, das Gefühl, diese Moral an eine der Nation

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nunmehr übergeordnete Gemeinschaft zu binden, und zugleich auch jenes Gefühl, welches das alte partikulare System bestimmt hatte: Die Auszeichnung der eigenen Gemeinschaft. Wie prekär die Übernahme der universalistischen Moral war, davon zeugte Jahr für Jahr das Verhalten zu den Verbrechen, die von der gerade erst untergegangenen moralischen Gemeinschaft gutgeheißen worden waren. Die Haltung zu diesen Verbrechen unterschied sich danach, wie sehr die verschiedenen Generationen, abhängig von ihrem Alter, überhaupt für sie verantwortlich sein konnten. Sie unterschied sich aber auch dadurch, in welcher Form die Verbrechen moralisch beurteilt wurden. Aufmerksame Beobachterinnen wie Hannah Arendt registrierten dies gerade an jenen Gefühlsbekundungen, die doch im Sinne der neuen Moral gut gemeint sein sollten. So meinte sie etwa über die jüngere Generation: »[deren] zur Schau getragenen und reichlich publizierten Schuldgefühle [können] gar nicht echt sein . . . Sich schuldig zu fühlen, wenn man absolut nichts getan hat, und es in die Welt zu proklamieren, ist weiter kein Kunststück, erzeugt allenthalben erhebende Gefühle und wird gern gesehen. [. . .] Die normale Reaktion einer Jugend, der es mit der Schuld der Vergangenheit ernst ist, wäre Empörung. [. . .] Wenn diese Jugend von Zeit zu Zeit – bei Gelegenheit des Anne-Frank-Rummels oder anläßlich des Eichmann-Prozesses – in eine Hysterie von Schuldgefühlen ausbricht, so nicht, weil sie unter der Last der Vergangenheit, der Schuld der Väter, zusammenbricht [. . .].«9 Diese Beobachtung Arendts zeigt überaus deutlich, auf welche Weise sich das System partikularer Moral allmählich deformierte, ohne vollständig zu verschwinden. Darin, daß sich die jugendlichen Deutschen für etwas, was nicht sie getan hatten, schämten oder schuldig fühlten, zeigt sich einerseits, daß sie Handlungen, die in dem alten System nicht als verbrecherisch galten, nunmehr als verurteilenswert ansahen. Daran aber, daß sie sich schämten für etwas, was nicht sie, sondern andere getan hatten, zeigte sich, daß sie sich auf eigenartige Weise immer noch der Gemeinschaft zugehörig fühlten, die das Bezugssystem der moralischen Gefühle geblieben war. Das Interessanteste aber ist, daß angesichts der Vielzahl der Verbrechen und des ungeheuren Unrechts, das in den vorangegangenen Jahren begangen worden war, aus der Trias der moralischen Gefühle allein die Scham eine Rolle spielte; daß weder Empörung noch auch eigentlich Groll zu finden waren. Groll hätte man doch erwarten können bei denjenigen, die – ob mit oder ohne Begeisterung – als Sechzehnjährige in einen Krieg hineingezogen worden waren, der mit der weitgehenden Vernichtung der eigenen Umgebung geendet hatte. Sie waren in vielen Fällen eher Opfer als Täter. Empörung aber hätte man erwarten können von allen,

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Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München 1987, S. 298 f.

die nicht an den Verbrechen teilgenommen hatten – etwa, weil sie zu jung gewesen waren. Man kann es auch – ohne vorschnell zu verallgemeinern – so ausdrücken: Sie übernahmen die Werte und Beurteilungen, die ihnen von denen, die eine universalistische Moral mitbrachten, nahegelegt wurden, ohne ihre Weise des moralischen Urteilens zu übernehmen. Sie verurteilten diejenigen Handlungen, die in dem alten System positiv bewertet worden waren. Aber sie als Verbrechen anzusehen hieß, auf diese Handlungen nur die Form der Beurteilung anzuwenden, die sie mit der Internalisierung des nationalsozialistischen Systems gelernt hatten. Daß sie sich für Handlungen schämten, die sie nicht begangen hatten, zeigt also auch, wie sehr die Form des moralischen Urteilens sich nach dem Krieg erhielt, obwohl seine Inhalte gewechselt hatten. Auschwitz war, so kann man sagen, in der Wahrnehmung dieser jungen Deutschen ein Verbrechen deshalb, weil es eine Schande war.

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IV Dagegen verbreitete sich schnell eine moralisch gemeinte Kritik an dem sogenannten Kollektivschuldvorwurf.10 Aus der Sicht eines universalistischen Moralsystems ist ein kollektiver Schuldvorwurf unsinnig: Er knüpft Schuld an ein bestimmtes, natürliches Merkmal und nimmt so eine Auszeichnung einer ganzen Gruppe von Menschen vor anderen vor, die sich nicht jedem einzelnen gegenüber begründen läßt. Der Kampf gegen den angeblich immer wieder vorgebrachten Kollektivschuldvorwurf kann für die Nachkriegszeit Verschiedenes bedeuten: Zum einen ist er eine polemische Waffe, da er eine moralische Gleichsetzung zwischen Nationalsozialisten und Alliierten herstellt. Wenn die Alliierten »die Deutschen« kollektiv verantwortlich machen, dann sind sie genau wie »die Nazis«. Damit wird zwar einerseits eine Distanzierung von dem nationalsozialistischen »Wir« geleistet, gleichzeitig aber eine neue Volksgemeinschaft konstruiert, welche nun alle angeblich beschuldigten Deutschen umfaßt und damit faktisch die alte fortsetzt. Aber wenn es keine kollektive Schuld in dem dargestellten Sinne gibt – ist es dann nicht auch falsch, daß der Holocaust in deutschen Schulen ausführlicher thematisiert wird als etwa in China? Haben Deutsche – auch wenn sie erst in den 60er Jahren geboren wurden – eine »besondere Verantwortung« in bezug auf die nationalsozialistischen Verbrechen? Verantwortungsvolles Handeln gründet sich auf universell gültige moralische Werte, und zu ihnen gehört eben, daß alle Menschen gleiche Rechte und Pflichten haben. Niemand darf also allein wegen seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe benachteiligt oder bevorzugt

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Norbert Frei, »Von deutscher Erfindungskraft oder: Die Kollektivschuldthese in der Nachkriegszeit«, in: Rechtshistorisches Journal 16 (1997), S. 621–634.

werden. In diesem Sinne ist es falsch zu sagen, manche Menschen seien wegen ihrer historischen Situation, wegen ihrer Herkunft oder ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Nation verantwortlicher als andere. Wenn damit gemeint sein soll, daß Deutsche irgendwie besonders moralisch sein müßten, so ist dieser Gedanke schlicht unverständlich. Alle Menschen sind also gleichermaßen verpflichtet, moralisch zu handeln – hier zeichnet sich niemand vor anderen aus. Und man kann in einer gegebenen Situation entweder moralisch handeln oder nicht – es gibt hier kein »mehr oder weniger«. Dagegen unterscheidet sich der Grad der Verantwortungsfähigkeit von Mensch zu Mensch dadurch, wieweit jeder in der Lage ist, die Folgen seines Handelns einzuschätzen, und also wieweit er fähig ist, in einer gegebenen Situation verschiedene Handlungsmöglichkeiten zu erkennen. Die Fähigkeit zur Schuld reicht also so weit, wie die Einsicht reicht. Aus diesem Grunde sind Kinder weniger verantwortlich für ihr Handeln als Erwachsene, und Geistesgestörte sind gar nicht verantwortlich für das, was sie tun. Ebenso sind die Situationen, in die man gerät, sehr verschieden, und entsprechend ist auch die persönliche Verantwortung oftmals vom Zufall abhängig. Wenn vor meinen Augen ein Verbrechen geschieht, muß ich im Rahmen meiner Möglichkeiten handeln und kann nicht sagen, daß es ungerecht sei, daß gerade ich Zeuge des Vorfalls geworden bin. Wenn neben mir jemand im Wasser zu ertrinken droht, fällt mir die besondere Verantwortung zu, ihm das Leben zu retten. Ich kann mich dabei – wenn mir die Rettung möglich ist – nicht einfach aus der Verantwortung stehlen, indem ich darauf hinweise, daß ich den Ertrinkenden nicht kenne oder etwa frage: Wieso gerade ich? Insofern gibt es also für Deutsche eine besondere Situation; sie unterscheidet sich aber von Individuum zu Individuum, von Generation zu Generation, wie auch von Organisation zu Organisation,11 bis hin eben zu der staatlichen Organisation »Bundesrepublik Deutschland«. Verantwortlich handelt, wer sich mit der Besonderheit seiner Situation unter moralischen Gesichtspunkten auseinandersetzt. Unmittelbar nach dem Krieg bestand in Deutschland etwa eine Verantwortung für die displaced persons und den Prozeß der Demokratisierung. Solange noch Täter leben, bleibt die juristische Auseinandersetzung mit diesen ebenfalls Teil der aufgrund der verübten Verbrechen erwachsenen Verantwortung. In dem Moment, in dem alle Straftäter gestorben sein werden, erlischt diese natürlich. Oft ist man nach dem Kriege dieser Verantwortung für die besondere Situation nicht gerecht geworden. So wurden die obersten

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So hat zum Beispiel jemand, der in der Führungsetage eines Konzerns sitzt, welcher im Nationalsozialismus Zwangsarbeiter ausgebeutet hat, eine andere Verantwortung als eine Aushilfe, die vorübergehend in diesem Konzern angestellt ist, oder als ein Mitarbeiter eines in den 70er Jahren gegründeten mittelständischen Unternehmens in Deutschland.

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Verantwortlichen im Reichssicherheitshauptamt nicht für ihre Verbrechen verurteilt. Man kann dann beginnen aufzurechnen, indem man etwa die Behauptung aufstellt, daß gerade dadurch, daß man diese Verbrecher nicht bestrafte, sondern sie in die deutsche Gesellschaft integrierte, ein besonders günstiger Übergang in eine parlamentarische Demokratie ermöglicht worden sei. Aus dem Umgang mit der Verantwortung können Nachfolgeprobleme entstehen. Hätten die deutschen Unternehmer und der deutsche Staat sich früher um die Entschädigung der Zwangsarbeiter gekümmert, würde man heute nicht mehr von dieser Verantwortung sprechen müssen. Zu diesen historisch verschiedenen Gegebenheiten, für die der einzelne verantwortlich ist, gehören auch die Dispositionen, aus der Geschichte resultierende Situationen in der einen oder anderen Weise zu beurteilen. Psychologische Befunde zeigen, wie sich die Traumatisierungen durch den Holocaust bei Kindern von Opfern noch in der zweiten und dritten Generation auswirken. Die Kinder von Tätern haben es mit den spezifischen Verdrängungen, den verleugneten und doch nicht verschwundenen antisemitischen Ressentiments, die sich in der Nachkriegszeit mit unaufgearbeiteter Schuld verbunden haben, zu tun.12 Die Erfahrungen wie auch die Erfahrungslosigkeit der Eltern ist in irgendeiner Form Teil der eigenen Person geworden. Die Probleme der Nachkommen von Tätern (und in anderer Weise natürlich auch die von Verfolgten) verdeutlichen nur, daß hier durch die Geschichte der Schuld und den durch Leugnen und Verdrängen geprägten Diskurs der Nachkriegszeit eine ganz spezielle historische Situation entstanden ist, die bestimmte Handlungen, aber auch ein Mißtrauen gegen die je unmittelbar sich aufdrängenden Urteile nahelegt. Verantwortung für die Situation zu übernehmen heißt, sich diese Geschichte bewußtmachen und die eigenen moralischen Urteile in diesem Kontext zu überprüfen.13 V Bis heute treffen in den Debatten um die nationalsozialistische Vergangenheit immer auch partikulare und universelle Moral aufeinander. Deutlich zeigt sich dies an dem heftigen Streit, der um die Friedenspreisrede Martin Walsers in der Frankfurter Paulskirche entbrannt ist.14 Viele Äußerungen Walsers und viele Mißverständnisse, die es in diesem

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Dan Bar-On, Die Last des Schweigens, Gespräche mit Kindern von Tätern, Frankfurt am Main 1993. 13 Martin S. Bergmann u. a. (Hrsg.), Kinder der Opfer – Kinder der Täter. Psychoanalyse und Holocaust, Frankfurt am Main 1998. 14 Martin Walser, Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede. Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 1998, Frankfurt am Main 1998. Die in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und in der Süddeutschen Zeitung publizierten Fassungen (12. Oktober 1998) sind nicht identisch. In der SZ sind ganze Sätze weggelassen worden, ohne daß dies im Text angezeigt wird.

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Streit gegeben hat, lassen sich erst aufklären, wenn man die darin aufeinanderprallenden Moralvorstellungen und deren historische Entwicklung untersucht. Von der Generation Martin Walsers kann man mit Gewißheit sagen, daß sie den Nationalsozialismus, allein schon aufgrund ihres jugendlichen Alters, gar nicht aktiv verschuldet haben kann. Andererseits ist es aber zugleich diejenige Generation, die die Maßstäbe der besonderen Form der partikularen Moral, die für den Nationalsozialismus charakteristisch war, in ihrer Kindheit erlernt hat. Insofern war für sie, mehr noch als für die eigentlichen Täter, die in einer anderen Zeit aufgewachsen waren, diese Form des Beurteilens selbstverständlich. Andererseits war sie nach der Niederlage des Nationalsozialismus auf neue moralische Werte angewiesen. Noch ihre Suche nach Engagement in den 60er und 70er Jahren war von diesem Bedürfnis geprägt und war gekennzeichnet von der Zweideutigkeit der Selbstverständlichkeit der erlernten partikularen Moral und den neuerworbenen Beurteilungen, die so nur vor dem Hintergrund einer universellen Moral verständlich sein konnten. Walsers Rede wirkte auf die meisten seiner Zuhörer in der Paulskirche, auf viele derjenigen, die von der Rede in den Medien lasen, befreiend. Vor allem die Rede von einer Instrumentalisierung von Auschwitz, die als Kritik entweder an einer »moralischen Instrumentalisierung« oder einer Instrumentalisierung von Auschwitz selbst gedeutet wurde, brachte Gefühle zur Sprache, die schon lange auf Ausdruck gewartet zu haben schienen. Gewiß gehörten nicht alle, die nach der Rede aufstanden und dem Redner stehende Ovationen entgegenbrachten, der Generation Walsers an. Aber gerade wegen dieser Reaktionen ist die Rede interessant. Sie sind ein Symptom dafür, wie sich partikulare Moral und universalistische Elemente bis heute tradiert, aber auch: wie sie sich verändert haben, und wie sie den Horizont zumindest kulturell maßgeblicher Schichten in Deutschland weiterhin bestimmen. VI Walser ist kritisiert worden, weil er das Gewissen als etwas von der öffentlichen Anerkennung und Beurteilung Abgelöstes verstanden hat. Doch ist sein Hinweis, Gewissen sei nicht delegierbar, richtig.15 Moral unterscheidet sich von Recht ja gerade dadurch, daß sie auf inneren, nicht auf äußeren Sanktionen basiert. Deshalb kann sie auch nicht an staatliche Institutionen delegiert werden. Darin, daß wir darauf vertrauen können, daß andere uns auch dann achten und nicht verletzen, wenn dieses Verhalten nicht ihrem unmittelbaren Vorteil dient und wenn niemand sie dabei kontrolliert, zeigt sich die besondere Bindungskraft der moralischen Normen. Sie beruht darauf, daß Handlungsregeln unmittelbar in 15

Walser, Sonntagsrede, S. 13.

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die Gefühle und Stimmungen der moralischen Person eingelassen sind. Auf diese Weise greifen sie schon in die Bildung der Absichten ein. Von jemandem, der sich generell schlecht fühlt, wenn er gegen eine Norm verstößt, kann ich mit großer Wahrscheinlichkeit erwarten, daß er sich an die Norm hält. Hat er sie einmal doch verletzt, kann ich erwarten, daß er für das, was er getan hat, die Verantwortung übernimmt – sei es, daß er für den entstandenen Schaden aufkommt, sei es, daß er sich fragt, wie es zu der Situation, in der er den anderen verletzte, gekommen ist – eben weil er eine ähnliche moralische Verfehlung verhindern möchte. Das Eigenartige an der Rede Walsers ist also nicht, daß er das Gewissen als etwas von den Urteilen und Beurteilungen anderer irgendwie Losgelöstes betrachtet. Eigenartig ist vielmehr, daß er die moralischen Normen, um die es geht, ganz und gar unbestimmt läßt. Darin gleicht er Martin Heidegger, dem einen der beiden Philosophen,16 auf die er sich als unverdächtige Zeugen beruft. Heidegger richtete sein Augenmerk gerade auf die Ablösung des Gewissens von den Konventionen; gegen sie setzte er aber – zumindest in »Sein und Zeit« – die Selbstgewißheit der Entscheidung, die er Entschlossenheit nannte.17 Dabei läßt er die Frage nach den Normen, an denen sich das Gewissen orientieren soll, völlig außer acht. Entscheidend ist nicht, welche Handlung vollzogen oder unter-

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Auch der andere Zeuge, Hegel, ist in dieser Hinsicht nicht vollkommen unverdächtig. Hegel beklagte ja gegenüber Kant die Loslösung des moralischen Sollens von der besonderen historischen Situation und band Moral an Sittlichkeit. Zwar integrierte er die universelle Moral insofern in sein System, als er mit der Französischen Revolution das Allgemeine – das heißt die Regel, daß alle Menschen frei und gleich sind, daß ihnen also auch gleiche Rechte zukommen müssen – weltgeschichtlich zum Durchbruch gekommen wähnte. Damit verlegte er aber das Problem der Moralbegründung in die Geschichtsphilosophie. Das hatte auch zur Konsequenz, daß im Verhältnis zwischen den Generationen Ungerechtigkeit unvermeidbar war. Die Gleichheit der Rechte der Gegenwart wurde auf die Benachteiligung der schon gestorbenen Personen gegründet. Auch eine Moral, die die Gleichheit der Rechte in der Zeitachse einschränkt, also nur bestimmten historisch situierten Generationen gleiche Rechte zuspricht, ist eine partikulare Moral. Die Toten können sich zwar nicht wehren. Sie können die Benachteiligung nicht mehr einklagen. Aber die Lebenden, die die Geltung ihrer moralischen Normen auf diese Weise einschränken, bezahlen diese Konstruktion mit einem Verlust an Gerechtigkeitssinn. Im Marxismus, der die geschichtsphilosophische Konstruktion Hegels in die Zukunft hinein verlängerte, wurde das Fatale dieser Konstruktion deutlich. Die moralischen Verfehlungen der Gegenwart konnten unter dem Hinweis gerechtfertigt werden, sie führten zu einer zukünftig gerechten Gesellschaft. Wer den Boden bereiten wollte für Freundlichkeit, konnte selber nicht freundlich sein. Von den Nachgeborenen wurde entsprechend Nachsicht, also Preisgabe der moralischen Kriterien verlangt. Die Zukunft konnte nur als geglückt gedacht werden um den Preis des gerechten Urteils gegenüber der Vergangenheit. Es ist daher auch kein Zufall, daß diejenigen politischen Organisationsformen, die sich in unserem Jahrhundert an der hegelianisch-marxistischen Position orientierten, nach dem Zusammenbruch ihrer Systeme ihre Einheit über nationalistische, oft auch extrem rassistische und antisemitische Ideologien herstellen. Die KP Rußlands, Rumäniens und Jugoslawiens sind Beispiele dafür. 17 Martin Heidegger, Sein und Zeit, 16. Aufl., Tübingen 1986, §§ 54–60 und 62.

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lassen wird, sondern allein, ob die Handlung von dem, der sie vollzogen hat oder vollziehen will, selbst gewählt wurde, also: ob er sich wirklich allein aus sich selbst heraus für diese Handlung entschieden hat. Das geht soweit, daß das Kriterium der Selbstgewähltheit einer Handlung die Frage nach der moralischen Güte ersetzt. Was immer ich tue, es kommt darauf an, daß ich das wirklich tue, und auch, daß ich es bin, der es tut. Aber die Frage, ob eine Entscheidung glaubwürdig meine Entscheidung ist, hat zunächst einmal nicht viel mit der Frage zu tun, ob es sich bei dem, wofür ich mich entscheide, um eine moralisch gute Handlungsweise handelt. Man kann sich ja auch für ein Leben als Verbrecher, das heißt ein Leben außerhalb jeder Moral, entscheiden. Bei Heidegger – und in dieser Hinsicht auch bei Walser – kann man deutlich sehen, wie die Frage nach der Authentizität die Frage nach der Moralität ersetzt. Das wird gerade da deutlich, wo Walser auf die Wechselseitigkeit der moralischen Gefühle zu rekurrieren scheint. In seiner Rede vertrat er die Maxime, man müsse das, was man zu jemand anderem sagt, auch zu sich selber sagen.18 Die Eigenart dieses Prinzips wird deutlich, wenn man sie mit dem Kantischen kategorischen Imperativ vergleicht, der dasselbe zu sagen scheint, in Wirklichkeit aber das genaue Gegenteil von Walsers Maxime darstellt. Kant sagt: Um herauszufinden, ob das Prinzip, das meinem Handeln zugrunde liegt, das Prinzip eines guten Handelns ist, muß ich überlegen, ob dieses Prinzip von allen gewollt werden kann. Diese Überlegung ist normalerweise ohne eine öffentliche Verständigung über moralische Normen, ohne eine Berücksichtigung der Interessen und des Lebenshintergrundes anderer nicht denkbar. Walser dagegen, der vor allem auf Authentizität rekurriert, stellt sich die Verständigung so vor, daß jeder sein Gewissen für sich entwickelt und nur die Handlungen, die er sich selbst vorzuwerfen bereit ist, auch anderen vorwerfen kann. Entsprechend muß er dort, wo verschiedene moralische Maßstäbe aufeinandertreffen, Toleranz fordern. Toleranz ist nun aber nach Walsers Logik selbst nicht mehr ein moralisches Prinzip, sondern Zufall; ein möglicherweise wünschenswerter, aber doch allein vom Schicksal gegebener zufälliger Zusammenklang zwischen den verschiedenen Gemeinschaften, in die die Menschheit nun einmal zerfallen ist. Welche moralischen Prinzipien man bei dieser Gewissenserforschung zugrunde legt und welche man also als für die anderen verbindlich erachtet, ist so zufällig wie die Hautfarbe, die man hat, oder die Tatsache, daß man in Deutschland geboren ist. Was also vordergründig wie eine Version des kategorischen Imperativs erscheint, ist in Wirklichkeit nur die Art und Weise, wie eine partikulare Moral sich intersubjektiv vermitteln kann, wenn sie nicht mehr auf den Glauben an einen Gott oder ein anderes, als objektive Instanz voraus-

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Walser, Sonntagsrede, S. 14: »etwas, was man einem anderen sagt, mindestens genauso zu sich selber sagen«.

gesetztes Prinzip setzen kann. Was das Gewissen für sich herausfinden soll, ist allein, ob derjenige, der sich so befragt, eine bestimmte Eigenschaft, die er von vornherein für gut hält, wirklich besitzt, oder ob er nur so tut, als ob er sie besäße. Dieses Urteil kann, wenn es in irgendeiner Weise öffentlichen Ausdruck findet, nur dazu dienen, sich einer schon zuvor bestehenden Gemeinschaft zuzuordnen oder aber sich aus ihr auszuschließen. Die Werte dieser Gemeinschaft sind aber vorausgesetzt; den Forderungen anderer sind sie nicht mehr ausgesetzt. So ist Walsers Prinzip gerade eine direkte Umkehrung des moralischen Prinzips, den Ansprüchen anderer, die man nicht begründet abweisen kann, zu folgen. Damit werden aber Urteile, die nicht auf der Zugehörigkeit zur bereits vorgegebenen moralischen Gemeinschaft beruhen, entwertet. Der Anspruch, zu anderen nur sagen, was man auch zu sich selber sagen könnte, ermöglicht es so, sich von zunächst nur imaginierten moralischen Vorwürfen zu entlasten und zugleich den Gedanken der Besonderheit der eigenen Gemeinschaft aufrechtzuerhalten. Erneut gelingt es so der Gemeinschaft, sich gegen die Frage, ob jedem einzelnen – gleich, ob er ihr zugehört oder nicht – recht geschieht, abzudichten. Auf die besondere Situation Deutschlands nach dem Holocaust angewandt, besagt das Prinzip: Wir wollen des Holocaust gedenken, aber niemand außer uns selbst darf uns vorhalten, was geschehen ist – da ja niemand in der außerordentlichen Lage ist, in der Deutsche sich durch den Holocaust befinden. Es entlastet damit von der Forderung nach einer verantwortlichen, das heißt immer erneut nach Begründungen fragenden Auseinandersetzung mit der besonderen Situation, die in Deutschland nach dem Holocaust entstanden ist. Dies ermöglicht es, Forderungen, die aus dem Holocaust resultieren, ohne Begründung zurückzuweisen. Allein die Forderung nach Begründung – ganz gleich, ob sie nur vorgestellt oder aber ausdrücklich geäußert wird – erscheint damit schon illegitim.19 VII Diese Zuordnung zu einer Gemeinschaft oder aber der Ausschluß aus ihr tritt an die Stelle der auf Begründung angewiesenen Empörung einer universellen Moral. Das wird deutlich zunächst dort, wo es um die moralische Beurteilung gegenwärtiger politischer Handlungen geht. So zitiert Walser verschiedene Äußerungen, in denen sich Schriftsteller und Philosophen über die Ereignisse von Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda empören.20 Empörung aber ist ein moralisches Gefühl, das seinem Sinn nach darauf angewiesen ist, daß es von anderen geteilt wird. In der Äußerung der Empörung zeigt sich also ein Anspruch auf Zustimmung – oder

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Allein schon die Möglichkeit, Ansprüche, die aus dem Holocaust resultieren, vor Gerichten, die nicht deutsche Gerichte sind, einzuklagen, bekommt damit etwas Anrüchiges. 20 Walser, Sonntagsrede, S. 15–17.

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eben Ablehnung. Eine Möglichkeit, den Anspruch auf Teilung der Empörung abzulehnen, wäre, den Sachverhalt zu bestreiten, der Anlaß zu der Empörung gibt. Eine andere Möglichkeit wäre, das moralische Urteil und also die moralischen Beurteilungsmaßstäbe, die in der Beurteilung enthalten sind, zu bestreiten. Beide Wege geht Walser nicht.21 Statt dessen fragt er nach der Aufrichtigkeit der Motive derer, die sich so empören. Es geht ihnen, so kann man seine Darstellungen verstehen, nicht darum, die Handlungen der rechtsradikalen Täter zu verurteilen. Vielmehr, so Walser, wollen die Kritiker mit ihrer Empörung über die Gewalttaten der Rechtsradikalen eine bestimmte Gruppe von Menschen (die Deutschen) verletzen, ohne daß sie dafür wirklich einen Grund hätten. Als Motiv für diese Verhaltensweise unterstellt Walser ihnen, daß sie sich auf diese Weise entschuldigen wollen, daß sie sich von der Seite der Beschuldigten lösen und »für einen Augenblick näher bei den Opfern als bei den Tätern« seien. Wer Täter ist, wird auf diese Weise, unabhängig von der jeweils feststellbaren individuellen Schuld, allein durch die Zugehörigkeit zu einer besonderen Gemeinschaft bestimmt. So tritt bei Walser die Rede von der Schande an die Stelle der Rede von der Schuld. Schande ist weder Schuld noch Verbrechen. Schande ist der Schatten, den einem bestimmten Glauben zufolge eine Verfehlung auch auf diejenigen wirft, die sie nicht verschuldet haben. Daß ein Schatten auf sie fällt, hängt einzig und allein damit zusammen, daß sie mit demjenigen, der die Verfehlung begangen hat, in einer besonderen Verbindung stehen. In diesem Sinne hat man früher auch von Vergewaltigung als Schändung gesprochen: Die Frauen, die Opfer der Vergewaltigung waren, galten als geschändet deshalb, weil in den Augen einer patriarchalischen Gesellschaft etwas von dem Fluch der Tat, die an ihnen verübt wurde, haftenblieb. Sie waren damit »entehrt«, das heißt, sie konnten die Rolle als Frau, die mit der Zuschreibung bestimmter, wenn auch begrenzter Rechte verbunden war, nicht mehr ausfüllen. Eine »gefallene Frau« war damit außerhalb dieser Gemeinschaft, deren Grenze sie zugleich konstituierte. Der nationalsozialistische Begriff der Rassenschande ist eine spezifische Variante dieser Kategorie. Rassenschande besteht ja nach nationalsozialistischer Auffassung darin, daß ein Angehöriger einer höheren Rasse mit einem Angehörigen einer niederen Rasse Geschlechtsverkehr hat, so daß sich das Blut der beiden Rassen vermischt. Die sogenannten Nürnberger Gesetze wurden als »Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre« bezeichnet.22

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Oder zumindest geht er ihnen nicht nach. Die eine Möglichkeit, nämlich die Beschuldigungen in Frage zu stellen, deutet er ja durchaus an, nämlich mit dem Satz: »Und wenn eine Beschuldigung weit genug geht, ist sie an sich schon schlagend, ein Beweis erübrigt sich da.« (Walser, Sonntagsrede, S. 15) 22 Vgl. Jospeh Walk (Hrsg.), Das Sonderrecht für die Juden im NS-Staat. Eine Sammlung der gesetzlichen Maßnahmen und Richtlinien – Inhalt und Bedeutung, Heidelberg 1981, S. 127.

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Versucht man, den Ausdruck »Schande« in ein universalistisches Verständnis zu übersetzen, dann wäre Schande die Mißachtung, die die Schuld bei allen anderen auslöst. Nur dort, wo Schuld festgestellt werden könnte, könnte man also auch von Schande reden. In dieser Redeweise würden Schuldgefühl und Empörung dann einander entsprechen – vorausgesetzt, daß der Schuldvorwurf berechtigt ist und der Beschuldigte die ihm zur Last gelegte Tat wirklich begangen hat. Wenn also jemand, von dem sicher ist, daß er allein aufgrund seines Alters für die Verbrechen nicht verantwortlich gewesen sein kann, nicht von Empörung spricht, sondern eben von Schande, dann läßt sich das aus dieser Perspektive am ehesten so verstehen, daß er entweder das Geschehene in Frage stellen oder aber die moralische Verwerflichkeit der Handlungen relativieren will. So ist es denn auch vielen Kritikern Walsers ergangen. Sie vermuteten Verharmlosung, da Walser nicht von Verbrechen oder Schuld, sondern eben von Schande sprach. Aber diese Übersetzung wird der eigenartigen Verwendung des Ausdrucks in einem partikularen Moralverständnis nicht gerecht. Denn hier kann jemand durchaus von Schande sprechen, obwohl er sich keines Verbrechens schuldig gemacht hat. Daß er beschuldigt wird, ohne schuldig geworden zu sein, ist nach partikularem Verständnis kein Unrecht – während es im Lichte einer universalistischen Moral ebenso verwerflich ist, jemandem ein Verbrechen zur Last zu legen, das er nicht begangen hat, wie es ungerecht ist, ihn aufgrund seiner Geburt oder anderer »natürlicher« Merkmale anderen gegenüber zu privilegieren. Walser hat seine Position in einer Rede verteidigt, die in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung unter der Überschrift: »Wovon zeugt die Schande, wenn nicht von Verbrechen« erschienen ist.23 Aber genau das gilt nicht für ein universalistisches Verständnis von Moral. Zum einen ist nicht alles, was in den Augen einer wie groß auch immer bestimmten Gruppe von Menschen Verachtung erzeugt, notwendigerweise ein Verbrechen. Die Niederlage einer Fußballnationalmannschaft mag »von der ganzen Nation« als Schande empfunden werden – weder die Spieler noch der Trainer der Mannschaft sind deshalb auch Verbrecher. Aber auch dort, wo Schande »von Verbrechen zeugt«, verweist sie nicht auf dieselbe Weise auf ein Verbrechen wie Schuldempfinden, Groll und Empörung das tun, sondern erzeugt mit der Erinnerung an das Verbrechen zugleich eine besondere Gemeinschaft. Angesichts eines Verbrechens kann und muß sich jeder moralische Mensch empören, sofern er nicht selbst das Verbrechen begangen und Schuld daran hat. Ein Verbrechen ist eine Schande aber nur für diejenigen, die einer scheinbar im voraus bestimmten Gemeinschaft angehören. Wo vom Holocaust als einer Schande für alle Deutschen gesprochen wird, darf ein Jude nicht mehr 23

28. November 1998, Nr. 277, S. 35.

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Deutscher sein. Während die Nationalsozialisten die Einheit der Nation über das Merkmal einer vermeintlichen Gleichheit des Blutes herzustellen versuchten, stellt Walser sie – nach dem Holocaust – über die geschichtliche Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der von Schande Gezeichnete her und gehorcht damit derselben Logik des »Du hast auch mitgemacht«, durch die sich Verbrecherbanden im Angesicht einer möglichen gerichtlichen Verfolgung immer wieder zu einen versuchen. Die Erinnerung an das Verbrechen wird so zum Gründungsmythos einer besonderen Gemeinschaft, die ihren Ursprung in diesem Verbrechen sucht – ob sie es begrüßt oder verurteilt, ist hierbei gleichgültig. »Was wir in Auschwitz begangen haben, haben wir als Nation begangen, und schon deswegen muß diese Nation weiterbestehen als Nation«, erklärte Walser in seinem Gespräch mit Bubis und schloß Bubis damit aus der Einheit dieser Nation aus.24 Der Nationalsozialismus unterschied zwischen verschiedenen Gruppen von Menschen und hierarchisierte diese. Noch innerhalb der Gemeinschaft, die er auszeichnete, gab es Menschen höheren und niederen Rechts. Aber konstitutiv für ihn war die Begrenzung des Rechtsbegriffs auf eine bestimmte Gruppe von Menschen überhaupt und also die Kennzeichnung anderer Gruppen als vollständig und von vornherein aus dem Bereich möglicher Rechte überhaupt ausgeschlossen. Ein Deutscher, der Widerstand leistete, verwirkte seine Rechte als Deutscher, ein Jude aber hatte gar nicht die Möglichkeit, seine Rechte zu verwirken, da er a priori keine hatte. Zugleich aber wurde der Anspruch der Deutschen auf Ausdehnung des Herrschaftsbereichs begründet mit dem Kampf gegen einen imaginierten Gegner, der die Weltherrschaft vermeintlich schon besaß bzw. im Begriff war, sie gerade zu ergreifen: das Judentum. Ein Grundtopos des Antisemitismus lag in einer Kombination zweier Argumente: Die Juden würden universale Werte verbreiten, um ihre partikularen Ziele durchzusetzen. Und: Der jüdische Universalismus ist letztlich ein Schwindel: »Wer Menschheit sagt, will betrügen.« (Carl Schmitt) Hier findet sich die Wurzel für diverse antisemitische Verschwörungstheorien – aber auch für einen universalen Verdacht gegen jegliche Theorie oder Moral, die universell gültig sein möchte. In der Rede Walsers findet sich eine Art Nachhall dieser Hierarchisierung und auch der dazugehörigen Legitimierung. Es wird in ihr eine Unterscheidung gemacht zwischen a priori Beschuldigten (die bzw. alle Deutschen), und solchen, die nicht a priori beschuldigt sind (Nichtdeut-

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Martin Walser in: »Wir brauchen eine neue Sprache für die Erinnerung. Das Treffen von Ignatz Bubis und Martin Walser: Vom Wegschauen als lebensrettender Maßnahme, von der Befreiung des Gewissens und den Rechten der Literatur«, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14. Dezember 1998.

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sche ganz allgemein).25 Unter der Gruppe der Beschuldigten gibt es nun einige, die sich von dieser Gruppe aussondern, sich ihr gegenüber also unangemessen verhalten, da sie die besondere Verantwortung für ihr Kollektiv nicht wahrnehmen. Indem sie versuchen, Auschwitz zum Instrument ihrer eigenen Entlastung zu machen, versuchen sie zugleich, aus dem Kollektiv der Beschuldigten auszubrechen. Sie verhalten sich zum Holocaust nicht als zu ihrer Schande. Daher ist ihre Form des Erinnerns unaufrichtig. Sie könnten sich auch anders verhalten, und das hieße der grausamen Ereignisse für sich zu gedenken und so den Zusammenhang mit jenen zu erspüren, mit denen sie in Schande verbunden sind. Die Juden, die ja zum Kreis derjenigen, die sich aus der Gruppe der Beschuldigten herauszustehlen versuchen, nicht gehören können, erwähnte Walser in der Friedenspreisrede dagegen gar nicht. In der anschließenden Debatte mit Bubis, dem Vorsitzenden des Zentralrats der Juden, machte Walser deutlich, welcher Platz ihnen in diesem System der verschiedenen Gruppierungen zukommt. Er warf Bubis vor, daß er sich nach den Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen am Ort des Geschehens gezeigt habe. Während es also im Fall der deutschen Intellektuellen die öffentliche Stellungnahme ist, die eine Instrumentalisierung von Auschwitz bedeuten kann, ist es im Fall der Juden deren Erscheinung im öffentlichen Raumüberhaupt,dieinWalsersVerständniseineInstrumentalisierung-von Auschwitz darstellen muß, sobald die Erinnerung an Auschwitz sich dabei irgendwie auf das aktuelle Verhalten der Deutschen auswirken kann. VIII Walser spricht in seiner Rede auch von der Instrumentalisierung von Auschwitz selbst als einem Mittel zur »Einschüchterung«. Gemäß dieser Rede sind es nicht die moralischen Gefühle, die instrumentalisiert werden, sondern das historische Ereignis selbst oder – genauer – die Erinnerung daran. Entsprechend ist in seiner Darstellung auch von zwei Arten von Erinnerung an Auschwitz die Rede, wobei sich die richtige von der falschen Art der Erinnerung durch die Motivation unterscheidet.26 Unaufrichtig (und also falsch) ist nach Walser daher jedes Erinnern, bei dem etwas anderes als das Ereignis selbst das Motiv des Gedenkens ist. Auch eine Erinnerung an Auschwitz zu einem guten Zweck ist daher, wie er ausdrücklich betont, eine Instrumentalisierung und als solche verwerflich. Aufrichtig nennt er dagegen ein Gedenken, bei dem die Erinnerung selbst, das Nichtvergessendürfen27 Motiv des Gedenkens ist.

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Walser, Sonntagsrede, S. 17. Auch hier ist also das Kriterium der Aufrichtigkeit wiederum maßgeblich. »[. . .] versuche ich, die Vorhaltung unserer Schande auf Motive hin abzuhören, und bin fast froh, wenn ich glaube, entdecken zu können, daß öfter nicht mehr das Gedenken, das Nichtvergessendürfen, das Motiv ist«. Walser (Sonntagsrede, S. 18) nimmt hier einen Ausdruck auf, der für die eigenartige Form der Erinnerung an den Holocaust in Deutschland offensichtlich charakteristisch ist.

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Stirbt ein mir nahestehender Mensch, so ist der Schmerz so groß, daß weder die Erinnerung an ihn noch die Erinnerung an seinen Tod eines besonderen Motives bedarf. Auch dann, wenn jemand mir schweres Unrecht zugefügt hat, ist es zunächst vor allem schwer zu vergessen, was geschehen ist. Die Erinnerung ist dann so bedrohlich, daß man vergessen können muß, um weiterleben zu wollen. Nicht das Nichtvergessendürfen, sondern das Nichtvergessenkönnen ist in diesem Fall das vorrangige Problem.28 Auch jemand, der ein Verbrechen begangen hat und sich nunmehr schuldig weiß, wird von der Schuld geplagt. Er kann nicht vergessen, was er ungeschehen machen will; er sehnt sich danach zu vergessen, was er doch nicht vergessen kann. In diesem Fall wird er das Opfer nicht vergessen können, und im Falle eines Mordes gibt es – wenn man nicht den Glauben an einen Gott voraussetzt – auch niemanden, der den Täter von der Erinnerung an den Toten, also von der Schuld freisprechen könnte.29 Vom Nichtvergessendürfen reden wir im Alltag da, wo wir eine Verpflichtung eingegangen sind, die wir vergessen könnten, deren Vergessen aber entweder zu Mißlichkeiten oder zu Sanktionen führen könnte. Wir dürfen etwas nicht vergessen, heißt ja positiv, daß wir uns etwas merken, daß wir uns an etwas erinnern. Etwas merken müssen wir uns deshalb, weil es in der Zukunft etwas bedeuten kann. So schreiben wir etwa vor dem Einkaufen die Namen der Güter, die wir nicht vergessen dürfen, auf einen Zettel. Von Nichtvergessendürfen kann man freilich auch da sprechen, wo jemand eine Schuld hat: wo er, sei es aus rechtlichen, sei es aus moralischen Gründen zu dem verpflichtet ist, was man im Deutschen etwas schief als Wiedergutmachung bezeichnet, und wo er geneigt ist, dieser Verpflichtung nicht nachzukommen. Das organisierte Vergessen der Ausbeutung von Zwangsarbeitern durch deutsche Unternehmen entsprang dem Willen, vergessen zu wollen, was man aus moralischen Gründen – nämlich wegen der noch gegenüber den Opfern zu leistenden Schuld – nicht hätte vergessen dürfen. Es ist aber gerade nicht dieses Nichtvergessendürfen, von dem Walser spricht.30 Daß seine Rede sich überhaupt auf aktuelle Ansprüche bezog, hat er im Gespräch mit Bubis deutlich zurückgewiesen. Soweit die Erinnerung an den Holocaust mit gegenwärtigen Zwecksetzungen verbunden ist, ist sie nach seiner Auffassung entweder instrumentalisierend oder aber eben gänzlich uninteressant.

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Die Ritualisierung – etwa bei Beerdigungszeremonien – hilft hier, an die Stelle des Nichtvergessenkönnens ein Sicherinnernkönnen zu setzen. Die Ritualisierung hilft hier also gerade weiterzuleben, sie bedarf keiner weiteren Begründung. 29 Bei geringeren Verfehlungen ist es oft ja sogar so, daß jemand, der sich schuldig fühlt, nicht vergessen kann, während derjenige, demgegenüber er schuldig geworden ist, sich an die Verfehlung schon nicht mehr erinnert. 30 Seine Rede lief nicht darauf hinaus, zu sagen, daß man über dem andauernden Gedenken (der Dauerpräsentation der Schande) nicht die Entschädigung der Zwangsarbeiter vergessen dürfe.

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Woraus entspringt dann aber die – offensichtlich als moralisch empfundene Pflicht, nicht vergessen zu dürfen? In der Diskussion um den Holocaust scheint es oft so, als sei das Erinnern an sich ein Wert oder gar das höchste moralische Prinzip. Aber Erinnern als solches ist nicht etwas, wozu man auffordern muß. Es gehört offensichtlich zur Natur des Menschen, daß er sich an Vergangenes erinnert. Ein Gebot, sich zu erinnern, hat erst dort einen Sinn, wo es eine Möglichkeit der Wahl gibt. Die Forderung des Eingedenkens bzw. des Nichtvergessendürfens bezieht sich also auf die Auswahl dessen, was erinnert werden muß. Im Falle gewöhnlicher Verbrechen sind alle, die von dem Verbrechen gehört haben, verpflichtet, sich um Sühne, die Bestrafung des Verbrechers, die Begleichung der Schuld zu kümmern.31 Diese Pflicht kann institutionalisiert werden; sie findet sich wieder in der Pflicht der Strafverfolgungsbehörden, das Einstellen von Ermittlungen bekanntzugeben, zu begründen und zu rechtfertigen. In Walsers Rede dagegen erscheint das Nichtvergessendürfen als ein Prinzip, das keiner weiteren Begründung bedarf und das selbst nicht wiederum an moralische Normen gebunden ist. Von anderen Formen eines nationalen Gründungsmythos unterscheidet sich dieser allein dadurch, daß das Ereignis, dessen wiederholt gedacht werden soll, als Schande, also als eine Befleckung gedacht wird. Aber auch der Nationalsozialismus besaß »in der Schmach und Schande von Versailles« einen solchen negativen Mythos, auf den jedoch dann der Erweckungsmythos antwortete.32 Walsers Konstruktion des Gründungsmythos enthält keinen solchen positiven Ausweg.33 Er verpflichtet diejenigen, die der durch diesen Mythos hergestellten Gemeinschaft angehören, auf ewig von den Freuden

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Zunächst einmal ist es natürlich so, daß die Opfer oder die Angehörigen der Opfer nicht vergessen können, und dieses Nichtvergessenkönnen führt dann dort, wo es keine Rechtssysteme gibt oder wo das Vertrauen in das rechtliche oder moralische Empfinden der Gemeinschaft gering ist, zu dem Verlangen nach Rache. Die »Geschändeten« also müssen sich hier um die Erinnerung nicht kümmern, sie treibt sie an; und es bedarf vieler Lernschritte und komplizierter Formen von Institutionalisierung, um die Kontinuität der Grausamkeit, die mit der Rache aus einem Verbrechen entsteht, zu brechen. In einer universalistischen Moral sind dem Prinzip der Rache dadurch Grenzen gesetzt, daß jemand, der nicht schuldig geworden ist, nicht von der Rache heimgesucht werden kann. Es gehört zu den scheinbaren Merkwürdigkeiten in der Geschichte der moralischen Gefühle im Nachkriegsdeutschland, daß öffentlich kaum in Erwägung gezogen wurde, daß Opfer oder deren Angehörige auch auf den Gedanken kommen könnten, sich zu rächen. 32 So Hermann Göring am 30. Januar 1933. Man könnte gegen diesen Vergleich anführen, daß eine militärische Niederlage ja nicht etwas moralisch Verwerfliches ist, die Niederlage von Versailles also nicht eigentlich als Schande verstanden werden konnte. Aber erstens war sie – mit den Augen der NS-Mythologie betrachtet – ja gerade durch die Zersetzung der Volksgemeinschaft von innen her herbeigeführt worden, zweitens galt in ihren Augen eine militärische Niederlage schon an sich als ein quasimoralisches Versagen, eben als eine Schande. 33 Walser spricht von »unvergänglicher Schande« (Sonntagsrede, S. 17).

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der Welt Abstand zu nehmen und verbietet ebenso auf ewig, nach den Gründen für solch eigenartig selbstauferlegte Askese zu fragen.

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IX Bei den meisten der Gefühle, die Walser zum Ausdruck brachte, handelte es sich um moralische Gefühle: Gefühle, ausgenutzt worden zu sein; Gefühle, um die Erinnerung an die eigene Biographie betrogen zu werden, insgesamt also um Gefühle, irgendwie ungerecht behandelt zu werden. Nun ist allein die Tatsache, daß einer das Gefühl hat, ungerecht behandelt worden zu sein, noch kein Kriterium dafür, daß er tatsächlich ungerecht behandelt wurde. Wir wollen daher unterscheiden zwischen Groll und Ressentiment. Mit Groll übersetzen wir den englischen Ausdruck »resentment«, der das Gefühl des Aufbegehrens und der Wut angesichts tatsächlich erlittener Ungerechtigkeit bezeichnet. Der aus dem Französischen übernommene deutsche Ausdruck »Ressentiment« dagegen bezeichnet ein allgemeines Gefühl des Neides und des Zurückgesetztseins, das von moralischer Selbstaufklärung unberührt geblieben ist, sich aber als moralisch versteht. Dieses Gefühl kann berechtigt sein, muß es aber nicht. Der Unterschied besteht darin, daß dem Groll auf der Seite des Täters nachweisbare Schuld, auf der Seite möglicher Beobachter Empörung entsprechen müßte. Wer in diesem Sinne grollt, muß also zugleich nach den moralischen Gefühlen der anderen zu fragen bereit sein. Gewiß kann man jemandem einreden, er habe eine Schuld, die er tatsächlich nicht hat. Dieses Gefühl, Schuld zu haben, bringt ihn vielleicht dazu, etwas zu tun, was nicht in seinem Interesse ist und was er nicht getan hätte, wenn er nicht geglaubt hätte, er sei schuldig. Moral zu instrumentalisieren heißt in diesem Fall, moralische Gefühle dort zu erzeugen, wo sie begründetermaßen nicht angebracht sind. Vom Standpunkt einer universellen Moral ist es verwerflich, jemandem mit Absicht eine Schuld einzureden, die er nicht hat,34 und wenn diesem das bewußt wird, dann ist Groll das angemessene Gefühl. Voraussetzung für eine derartige Manipulation ist jedoch die Unreflektiertheit der eigenen Schuld oder Unschuld – oder eine unterentwickelte moralische Kompetenz, die verhindert, Schuldvorwürfe angemessen zu beurteilen. Beide Voraussetzungen sind gewiß in Deutschland gegeben. Dazu hat vor allem auch das Weiterbestehen partikularer Moralvorstellungen beigetragen. Stellt man die massenhaft verübten Morde vor allem oder allein als Schande für die Nation dar, so trifft ein impliziter Schuldvorwurf auch jene, die nicht schuldig sind. Sind diese selbst nicht bereit, dem Schuldvorwurf nachzugehen und nach seiner Begründung zu fragen und ihn – je nachdem – anzunehmen oder zurückzuweisen, so ent-

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Der Grund dafür ist, daß derjenige, der jemandem eine Schuld einredet, die er nicht hat, den Gesichtspunkt der Gleichheit verletzt.

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steht jene moralische Unsicherheit, die auch für viele junge Deutsche heute noch charakteristisch ist. Sie wird bestätigt durch die Tradierung der partikularen Moral, für die bezeichnend ist, daß moralisches Urteilen und moralische Gefühle sich der Begründung entziehen. Denn die Bevorzugung oder Benachteiligung einer bestimmten Gruppe von Menschen, der Druck, bestimmten, zufällig gegebenen Sitten und keinen anderen zu folgen, ist ja gerade begründungslos vorausgesetzt. So trägt die partikulare Moral selbst zu jener Unsicherheit bei, deren Ausnutzung dann im zweiten Schritt beklagt wird. Sie stärkt das Ressentiment, indem sie sich weigert, nach der Begründung von Schuldvorwürfen überhaupt zu fragen. Moralische Normen zu begründen heißt, darstellen zu können, daß ihre Befolgung im Interesse jedes einzelnen liegt. Die Weigerung, im Bereich moralischen Urteilens und Forderns nach Begründung zu fragen, bedeutet daher nicht nur, Tatsachen zu leugnen. Vielmehr wird schon mit dieser Weigerung anderen das Recht abgesprochen, daß man ihre Motive und Interessen berücksichtigt – und freilich umgekehrt auch nach deren Begründung fragt. Sobald mit dieser Weigerung eine – sei es positive, sei es negative – Auszeichnung der eigenen Gemeinschaft verbunden ist, ist sie mehr als nur ein passives Nichtwissenwollen oder Nichtwissenkönnen, sondern wird zum aktiven Tun, zum Immunisieren gegen den Einspruch anderer, deren mögliche Verletzung man nicht mehr wahrnehmen will. Der Schritt von der Ignoranz zur Verfolgung ist hier nicht groß. Solche Immunisierung ist aber nur durchzuhalten, wenn man für das eigene Handeln zumindest den Schein einer Begründung hat. Als Himmler jene Rede vor den Angehörigen der SS hielt, konnte und wollte er den Eindruck, daß das, was sie taten, in irgendeinem Sinne etwas Schreckliches war, nicht verwischen. Sie alle wußten ja, was sie taten, denn sie nahmen es täglich wahr. Statt dessen stellte er das, was geschah, so dar, als habe es eine gewisse Größe, eine Aura, einen über das Handeln des einzelnen hinausreichenden Sinn. Dabei bediente er sich in der Rede selbst zweier Operationen. Einmal gab er sich selbst und denen, zu denen er sprach, das Gefühl, einer ausgezeichneten Gemeinschaft zuzugehören. Zweitens machte er ihnen glaubhaft, daß sie als Angehörige dieser Gemeinschaft so handeln mußten, wie sie handelten, da ihr Handeln in irgendeinem dunklen Sinn historisch notwendig war. Als Hintergrund seiner Darstellung diente das Bild eines Feindes, der sich angeblich der universalistischen Moral bediente, um die Moral – also das Gemeinschaftsgefühl – der Deutschen zu zerstören. Jener Aura entkleidet, ohne die dazugehörige Geschichte, ohne den Glauben an die Zustimmung jener mythisch überhöhten Gemeinschaft, an eine von irgendwoher kommende historische Bestimmung wäre ihr Tun auch ihnen in jedem seiner Momente als bloß häßlich, dumm und ekelhaft erschienen. Es hätte sich ihnen das gezeigt, was Hannah Arendt die »Banalität des Bösen« genannt hat.

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Noch in Walsers Rede ist der Widerhall jener Sehnsucht nach Notwendigkeit der Auszeichnung der eigenen Gemeinschaft zu spüren, die auch Himmlers Rede nicht zu stillen vermochte. Aber an die Stelle des einzigartigen, wenngleich grauenvollen Auftrags ist inzwischen die unvergängliche Schande getreten, an die Stelle des Nichtanderskönnens das Nichtvergessendürfen, an die Stelle der Verräter, die sich dem Geschick des deutschen Volkes verweigern wollen, diejenigen, die seine Schande instrumentalisieren. Für einen Augenblick aber vermochte die Rede es, der fehlenden Auseinandersetzung mit moralischen Ansprüchen der Gegenwart erneut den Schein einer Begründung zu geben, indem sie die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft – und die entsprechenden Gefühle – als unentrinnbar notwendig darzustellen verstand. Auch diese Notwendigkeit aber ist Schein. Unter ihr zu leiden ist ebenso sinnlos, wie es sinnlos ist, sie als Auszeichnung zu begreifen oder sich ihrer zu freuen. Einmal mehr zeigt sich auch in diesem Versuch der Etablierung einer partikularen Ethik, wie »anstrengend es ist, böse zu sein«.35

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Am deutlichsten in jener Gesprächssequenz, in der Walser den KZ-Überlebenden Bubis darauf hinweist, daß er, Walser, sich schon mit der deutschen Vergangenheit befaßt habe, als Bubis noch »mit ganz anderen Dingen« beschäftigt gewesen sei: »Und, Herr Bubis, da muß ich Ihnen sagen, ich war in diesem Feld beschäftigt, da waren Sie noch mit ganz anderen Dingen beschäftigt. Sie haben sich diesen Problemen später zugewendet; Sie haben sich diesen Problemen später zugewendet als ich.« Martin Walser in: »Wir brauchen eine neue Sprache für die Erinnerung. Das Treffen von Ignatz Bubis und Martin Walser: Vom Wegschauen als lebensrettender Maßnahme, von der Befreiung des Gewissens und den Rechten der Literatur«, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14. Dezember 1998, S. 39.

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Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an Martin Walser, Paulskirche, Oktober 1998; Foto: Werner Gabriel

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