Frühe Werke der Erinnerung an den Holocaust in Siebenbürgen

November 27, 2016 | Author: Jesko Feld | Category: N/A
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1 Zoltán Tibori Szabó Frühe Werke der Erinnerung an den Holocaust in Siebenbürgen Abstract The t...

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SHOAH: INTERVENTION. METHODS. DOCUMENTATION.

Zoltán Tibori Szabó

Frühe Werke der Erinnerung an den Holocaust in Siebenbürgen Abstract The terrible details of the tragedy of Jewry in the northern part of Transylvania, which had been annexed to Hungary after 1940, emerged even in the last months of the Second World War, when the essence and events of the genocide were known in ever wider circles. As ­awareness of the events first emerged, literary and artistic works were also published in Transylvania between 1945 and 1949 that depicted the cruelties of the Shoah and at the same time aimed to raise a lasting monument for the Jewish communities that had been destroyed. These early works of Holocaust remembrance made a considerable contribution to retaining the mass murder in people’s consciousness and turning a young generation’s awareness to the terrible heritage of Nazism later on, when, during the decades of consolidation of communism, all spheres of life were submerged in a „great silence“.

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Ein Beitrag zu den frühesten siebenbürgischen Werken der Erinnerung an den Holocaust hat gleich eingangs zu klären, welche Informationen der regionalen Gesellschaft nach der Ghettoisierung und Deportation der Jüdinnen und Juden im Mai und Juni 1944 bezüglich des weiteren Schicksals dieser Menschen überhaupt zur Verfügung gestanden waren. In diesem Zeitabschnitt hatte ja die Presse Siebenbürgens lediglich über die zunehmende Ausgrenzung, die Demütigung und die materielle Ausplünderung des Judentums sowie darüber berichtet, in welchem Tempo die Isolierung in Ghettos vor sich ging. Die siebenbürgischen Blätter informierten zwar über die verschiedenen antijüdischen Maßnahmen und die Ghettoisierungen,1 verschwiegen jedoch die Tatsache und die Richtung der Deportationen. Während die Deportationszüge mit mehreren Tausend Juden aus dem Norden Siebenbürgens Tag für Tag nach Auschwitz-Birkenau rollten, konzentrierte sich die Aufmerksamkeit der siebenbürgischen Presse gänzlich auf die bis ins kleinste Detail gehende Erörterung „der schädlichen wirtschaftlichen Aktivitäten“ des Judentums, auf die Darstellung der beschlagnahmten jüdischen Wertsachen und nicht zuletzt auf die erbitter-

1 Als Beispiel seien die bibliografischen Angaben einiger von ihrem Quellenwert her relevanter Artikel aus der zeitgenössischen ungarischsprachigen Presse Nordsiebenbürgens angeführt: Rendelet a zsidó vagyonok bejelentési kötelezettségéről [=Verordnung über die Meldepflicht der jüdischen Vermögen], in: Ellenzék, 17.4.1944, 2; A mai nappal bezárják az összes zsidó üzlete[ke]t [=Mit dem heutigen Tag alle jüdischen Geschäfte geschlossen], in: Ellenzék, 21.4.1944, 6; A zsidók május elsejéig kötelesek bejelenteni élelmiszer-ellátási adataikat [=Juden müssen bis zum 1. Mai ihre Angaben zur Lebensmittelversorgung anmelden], in: Ellenzék, 27.4.1944, 4; Kolozsváron kényszerlakhelyet jelöltek ki a zsidók számára. A téglagyárban és környékén létesítik a kolozsvári gettót [=In Klausenburg wurde eine Notunterkunft für die Juden festgelegt. Das Klausenburger Ghetto wird in der Ziegelfabrik und ihrer Umgebung eingerichtet], in: Ellenzék, 3.5.1944, 6; Nagyváradon 30.000 zsidót helyeznek el az ortodox zsinagóga környéki gettóban [=30.000 Juden in Großwardein im Ghetto nahe der orthodoxen Synagoge untergebracht], in: Ellenzék, 4.5.1944, 6; Országszerte kijelölték a zsidók lakhelyét [=Unterkunft der Juden landesweit festgelegt], in: Ellenzék, 16.5.1944, 3; Elszállították a zsidókat [=Die Juden wurden deportiert], in: Szilágyság [=Zillenmarkt/Zalău], 26.5.1944, 3. Zoltán Tibori Szabó: Frühe Werke der Erinnerung an den Holocaust in Siebenbürgen

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ten Auseinandersetzungen, um konfisziertes jüdisches Vermögen zu ergattern.2 Parallel dazu begannen umfassende Manöver gegen Menschen, die Wertsachen von deportierten Juden versteckt hielten.3 Nordsiebenbürgen, das nach dem Zweiten Wiener Schiedsspruch 1940 Ungarn zugesprochen worden war, wurde im Laufe des Septembers und Oktobers 1944 von den sowjetischen und rumänischen Streitkräften erobert. Unmittelbar nach der Befreiung gründeten linke Kräfte, die unter Partei des Friedens laufenden Kommunisten und die Sozialdemokraten, neue Presseorgane, die sich unverzüglich daran machten, aufzudecken, was genau im Frühling und Frühsommer 1944 mit dem nordsiebenbürgischen Judentum geschehen war. Dabei wurde klar, dass weder die Bevölkerung oder die mehrheitlich linksorientierten Mitarbeiter der neuen Presseorgane noch die heimkehrenden jüdischen Zwangsarbeiter über präzise Informationen über das Schicksal der Jüdinnen und Juden aus Nordsiebenbürgen nach deren Deportation verfügten.

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© Bálint Kovács

Das nach dem Zweiten Wiener Schiedsspruch an Ungarn angegliederte Nordsiebenbürgen

2 Z. B.: A zsidó üzletek nagy része zárva marad, árukészletüket a kamarák javaslata alapján osztják szét [=Der Großteil der jüdischen Geschäfte bleibt geschlossen, ihre Warenvorräte werden nach den Empfehlungen der Kammern verteilt], in: Ellenzék, 16.5.1944, 5; Kolozsváron 400 zsidó üzletre nem kevesebb, mint 1500 igénylő tart számot [=In Klausenburg rund 1.500 Ansuchen auf die 400 jüdische Geschäfte gemeldet], in: Ellenzék, 16.5.1944, 5; A jövő hét folyamán felnyitják és leltározzák a zsidó bankok széfjeit [=Nächste Woche werden die Safes der jüdischen Banken geöffnet und inventarisiert], in: Ellenzék, 19.5.1944, 6; Kilencvennégymillió értékű vagyont vallottak be a kolozsvári és Kolozs megyei zsidók [=Die Juden in Klausenburg und im Komitat Klausenburg erklärten ihr Vermögen im Wert von vierundneunzig Millionen], in: Ellenzék, 20.5.1944, 5; Tömegesen igénylik Kolozsváron a zár alá vett zsidó ingóságokat [=Massenhafter Anspruch auf die gesperrten jüdischen Mobilien in Klausenburg], in: Keleti Magyar Újság, 27.7.1944, 8; Kiutalták a volt zsidó üzlethelyiségeket és műhelyeket [=Ehemalige jüdische Geschäftslokale und Werkstätte ausgewiesen], in: Keleti Magyar Újság, 29.7.1944, 2; Kolozsváron augusztus végéig befejeződik a zsidó vagyontárgyak összegyűjtése és leltározása [=In Klausenburg wird bis Ende August die Einsammlung und Inventarisierung jüdischer Wertsachen abgeschlossen], in: Keleti Magyar Újság, 22.8.1944, 4. 3 S. u. a. Vagyonrejtő zsidókat leplezett le a nagyváradi rendőrség [=Die Polizei in Großwardein enttarnte Juden, die ihr Vermögen verstecken wollten], in: Ellenzék, 4.5.1944, 4; Haladéktalanul be kell szolgáltatni a zsidóktól szerzett vagyontárgyakat [=Die von Juden ergatterten Wertsachen sind unverzüglich abzuliefern], in: Ellenzék, 15.5.1944, 4; Mindenkinek be kell jelentenie jún. 5-ig a birtokában lévő zsidó vagyontárgyakat [=Alle müssen bis zum 5. Juni die jüdischen Wertsachen in ihrem Besitz anmelden], in: Ellenzék, 31.5.1944, 2; Rendőrségi őrizetbevételek és internálási eljárások zsidóvagyonrejtegetés miatt [=Polizeiliche Inhaftierungen und Internierungsverfahren wegen des Versteckens jüdischen Vermögens], in: Ellenzék, 31.5.1944, 6; Hét internálás Kolozsváron zsidó vagyontárgyak rejtegetése miatt [=Sieben Internierungen in Klausenburg wegen des Versteckens jüdischer Wertsachen], in: Keleti Újság, 1.6.1944, 5; Újabb súlyos rendőrbírósági ítéletek zsidó vagyonrejtegetés miatt [=Neue schwere Polizeigerichtsurteile wegen des Versteckens jüdischen Vermögens], in: Ellenzék, 14.7.1944, 3; Nagyváradi előkelőségeket büntettek meg zsidóvagyon-rejtegetés miatt [=Notabilitäten in Großwardein wegen des Versteckens jüdischen Vermögens bestraft], in: Keleti Magyar Újság, 16.7.1944, 5; Ismét több kolozsvári lakost büntettek meg zsidóvagyon rejtegetése miatt [=Wieder mehrere Einwohner von Klausenburg wegen des Versteckens jüdischen Vermögens bestraft], in: Keleti Magyar Újság, 20.7.1944, 3. Zoltán Tibori Szabó: Frühe Werke der Erinnerung an den Holocaust in Siebenbürgen

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Die Artikel, die – nachdem die Front über das Land hinweggezogen war – in der siebenbürgischen Presse über das Schicksal der verschleppten Juden noch vor deren Deportation erschienen, konzentrierten sich auf die Ereignisse im Frühling 1944. Ein erster Bericht über die Tragödie des nordsiebenbürgischen Judentums erschien am 5. November 1944 in der Klausenburger Tageszeitung Világosság (Klarheit). Allein dieser informierte kaum darüber, was mit den Deportierten in den deutschen Lagern geschehen war: Béla László beschränkte sich in seiner dreiteiligen Artikelserie auf die Ereignisse in Nordsiebenbürgen ein halbes Jahr zuvor, also zwischen April und Juni 1944 und konzentrierte sich dabei aus naheliegenden Gründen in erster Linie auf die Geschehnisse in Klausenburg selbst.4 Aus den einzelnen Beiträgen geht auch sehr deutlich hervor, dass der Verfasser sich nicht im Klaren darüber war, dass die Jüdinnen und Juden nicht in herkömmliche Lager, sondern in Todeslager verschleppt worden waren, und folglich ahnte er auch nicht, dass der Großteil der Verschleppten nie wieder heimkehren würde. Zu seiner Entlastung kann ins Treffen geführt werden, dass nicht einmal die von László befragten Vorsitzenden des im Oktober 1944 gegründeten Demokratikus Zsidó Népközösség (DZSN, Demokratischer Jüdischer Volksverband) über das Ausmaß der Verluste informiert waren. Dies lässt sich wiederum so erklären, dass viele von ihnen nach ihrer Flucht von den Zwangsarbeitseinsätzen im Windschatten der russischen Truppen zurückgekehrt waren. Die Vorsitzenden konnten so eben auch nicht wissen, wohin genau ihre, von ihnen nach dem Einsatzbefehl zurückgelassenen Familienmitglieder von den ungarischen und deutschen Behörden deportiert worden waren. Zudem stellte sich heraus, dass innerhalb der ungarischen Exekutive zwar vertrauliche Informationen bezüglich der Deportation der in die Ghettos Siebenbürgens gepferchten Juden nach Deutschland durchaus die Runde gemacht hatten, aber dass sich selbst diese Kreise über das eigentliche Ziel nicht im Klaren gewesen waren.5 In Siebenbürgen allerdings hatte man über die Deportationen, über ihre Ziele und über das Schicksal, das die Deportierten erwartete, sehr wohl Bescheid gewusst. Die wichtigsten Informationen aus den Auschwitz-Protokollen waren ja bereits im Frühling 1944 den Oberhäuptern der christlichen Kirchen übermittelt worden, und der römisch-katholische Bischof von Weißenburg (Alba Iulia, Gyulafehérvár) Áron Márton hatte in seiner Rede am 18. Mai 1944 und ein paar Tage später in seinem Brief an die ungarischen Regierungsbehörden mehr als nur angedeutet, dass die Deportierten der Tod erwarte. Aber auch die anderen christlichen Kirchenoberhäupter wussten – ebenso wie die Mitglieder der politischen Elite – über das den Juden zugedachte Schicksal sehr wohl Bescheid, allein öffentlich äußern wollte sich dazu niemand. Breiteren Kreisen wurden die Gräuel von Auschwitz-Birkenau und den anderen deutschen Todes- und Konzentrationslagern erst später bekannt, konkret als die ersten Gruppen der Überlebenden eintrafen und – soweit es die erlittenen seelischen 4 László Béla, Az erdélyi zsidóság tragédiája I. [=Die Tragödie des siebenbürgischen Judentums], in: Világosság, 5.11.1944, 5; ders., Az erdélyi zsidóság tragédiája. II. „Vakulj Magyar! Visszük a zsidót …“ [=Sei blind, Ungar! Wie holen den Juden ab …“], in: Világosság, 10.11.1944, 3; ders., Az erdélyi zsidóság tragédiája. III. 16.000 ember szorong a téglaszárítókban [=16.000 Menschen in den Ziegeltrockner zusammengepfercht], in: Világosság, 15.11.1944, 2. 5 László Béla, Az erdélyi zsidóság tragédiája. III [=Die Tragödie des Siebenbürger Judentums]. In diesem, dem dritten Teil seines investigativen Artikels schreibt er Folgendes: „Nachdem es in den eingeweihten Kreisen der Polizei bekannt wurde, dass das Judentum einstweilen mit unbekanntem Reiseziel aus der Stadt deportiert wird, erschienen Detektive in der Gemeinde und nahmen den Hilfsfonds, 49.200 Pengő mit. Dann wurden die Mitglieder des Judenrats vorgeladen und alle interniert. Damit brach die jüdische Gesellschaft in Klausen­ burg endgültig zusammen. Es fing die Verschleppung der Juden nach Deutschland an.“ Zoltán Tibori Szabó: Frühe Werke der Erinnerung an den Holocaust in Siebenbürgen

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Traumata und körperlichen Schädigungen zuließen – über ihre Erfahrungen berichteten. Aber selbst die Wohlwollendsten nahmen diese Erzählungen äußerst skeptisch auf, mehr noch: Sie hielten sie oft einfach für unglaubwürdig. Auskunft über die Todeslager und die dortigen Geschehnisse aus erster Hand erhielt die siebenbürgische Öffentlichkeit erst mehr als drei Monate nach der Veröffentlichung der erwähnten Artikelserie von Béla László, als am 20. Februar 1945 die erste kleine Gruppe von Überlebenden deutscher Vernichtungslager im besetzten Polen – Bernát Hersch, Adolf József und Mihály Preisler aus Bistritz (Bistrița, Beszterce) bzw. Sächsisch-Regen (Reghin, Szászrégen) – in Klausenburg eintraf. Auf der Durchreise berichteten sie der Mitarbeiterin von Világosság, Ilona F. Jagamas, über ihre Erlebnisse. Sie teilten mit, dass sie mit den Deportationszügen nach Birkenau gekommen waren, wo sie alle selektiert wurden, die arbeitsfähigen, gesunden Erwachsenen seien nach rechts, die anderen nach links geschickt worden. Was mit den nach links Geschickten geschehen war, wussten nicht einmal die Überlebenden genau, obwohl sie es ahnten: „Der Schornstein der Krematorien rauchte Tag und Nacht“ und „wochenlang war der Geruch von verbranntem Fleisch und Knochen zu spüren.“ Die von der Reporterin befragten Überlebenden fügten noch hinzu: „Wer ermordet wurde, wissen wir nicht.“6

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Die erste Gruppe der aus Siebenbürgen verschleppten Juden in Klausenburg angekommen, Világosság, 21. Februar 1945 6 Ilona F[erencz Lászlóné]. Jagamas, Megérkezett Kolozsvárra az Erdélyből elhurcolt zsidók első csoportja. Négy kolozsvári zsidó orvos útban van hazafelé [=Die erste Gruppe der aus Siebenbürgen verschleppten Juden in Klausenburg angekommen. Vier jüdische Ärzte aus Klausenberg auf dem Heimweg], in: Világosság, 21.2.1945, 3. Zoltán Tibori Szabó: Frühe Werke der Erinnerung an den Holocaust in Siebenbürgen

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Aus dem Artikel geht deutlich hervor, dass nicht einmal die Reporterin diese Informationen zu interpretieren vermochte, stellte sie doch keine weiteren Fragen nach irgendwelchen Einzelheiten. Entschuldigend mag hier ihre anderorts so oft unter Beweis gestellte fachliche Professionalität und Seriosität7 angeführt werden bzw. die Tatsache, dass am Tag der Veröffentlichung dieser Reportage im Blatt auch der Aufruf der DZSN erschien, der die Zielsetzungen der Bewegung für die „Heimholung der aus Nordsiebenbürgen Deportierten“ bekannt gab. Da der Verband zu dieser Zeit direkt aus Moskau Hilfe und Beistand für die Heimholung der Deportierten erhoffte, wurden seine Mitglieder zur Unterstützung der Kommunistischen Partei und der Országos Demokrata Arcvonal (ODA, Demokratische Landesfront) aufgefordert – und zwar mit dem Argument: „Je früher dieser Krieg beendet wird, desto früher wird es uns möglich, unsere verschleppten Angehörigen wiederzusehen.“8 Übrigens hatte die DZSN bereits früher die Forderung gestellt, dass die Regierungen der Alliierten „in Bukarest intervenieren mögen, dass die rumänische Regierung auch über eine direkte Funkbotschaft die Zurückstellung der nach Deutschland abgeschobenen Juden einfordere“. Sollte dieser Forderung nicht Folge geleistet werden, so müsse Rumänien „die Verhaftung und Internierung der in Rumänien lebenden sächsischen und schwäbischen Nationalitäten anordnen, solange dieses Ziel nicht erreicht werde“.9 Allein die konkreten Ereignisse wurden nur sehr langsam dokumentiert, und wenngleich die ungarische Presse von Zeit zu Zeit durchaus über die Übergriffe der Ordnungskräfte des Horthy-Regimes berichtete, vermischten die einschlägigen Artikel die einzelnen Fragen mit- und untereinander, und die Leiden des Judentums blieben dabei bisweilen unerwähnt. Die Bevölkerung Nordsiebenbürgens wusste zur Zeit des Holocaust auch über die Tragödie des Judentums im südlichen Landesteil, das ja nach dem Wiener Schiedsspruch Rumänien zugesprochen worden war, leidlich wenig. Erste Berichte in der siebenbürgischen Presse teilten nur den traurigen Ausgang der 1942 erfolgten ­Deportationen aus der südsiebenbürgischen Region und des Banats mit. Die ­Temeschwarer Tageszeitung Szabad Szó (Freies Wort) fasste zum Beispiel die Begebenheiten bereits am 16. November 1944 so zusammen: Die rumänischen Behörden hatten im Herbst 1942 800 jüdische Männer, Frauen und Kinder, darunter 25 Bürgerinnen und Bürger aus der Hauptstadt des Banats, verschleppt. Sie waren in die Umgebung von Mostovoi, dem heutigen Mostovoye in Transnistrien verbracht worden, wo ein großer Teil von ihnen „von den deutschen Kolonisten, den ukrainischen Polizisten und den rumänischen Gendarmen“ ermordet und ihre Leichen „in den Kalköfen von Kacatova verbrannt worden waren“.10 Von den aus Temeschwar ­Deportierten kehrten nur zwei Personen heim. Viele erachteten damals diese Geschichte als unglaubwürdig, wie auch die Tatsache der Deportationen aus dem südlichen Teil Siebenbürgens, das ja auch nach dem 7 Lili Jagamas rettete 1944 ein zweijähriges jüdisches Mädchen vor der Deportation und half einer jüdischen Familie, sich in Lone (Luna de Jos, Kendilóna), in der Nähe von Klausenburg zu verstecken. Vgl. Zoltán Tibori Szabó, Frontiera dintre viaţă şi moarte. Refugiul şi salvarea evreilor la graniţa româno-maghiară (1940– 1944) [=An der Grenze von Leben und Tod. Die Rettung der Juden an der rumänisch-ungarischen Grenze, 1940–1944], Bucureşti 2005, 132. 8 A Demokrata Zsidó Népközösség az elhurcoltakért [=Die Demokratische Jüdische Volksgemeinschaft für die Verschleppten], in: Világosság, 20.2.1945, 2. 9 László Béla, Az erdélyi zsidóság tragédiája. I, 5. 10 S. K., Mosztovoj halálkastély. 250 ezer zsidót öltek meg a németek Mosztovoj vidékén, közöttük huszonöt timișoara-temesvárit [=Todesschloss Mostovoi. Die Deutschen ermordeten 250.000 Juden in der Umgebung von Mostovoi, darunter fünfundzwanzig Einwohner von Timișoara-Temesvár], in: Szabad Szó 16.11.1944, 4. Die im Zitat angeführte Ortschaft Kacatova ist nicht auffindbar. Zoltán Tibori Szabó: Frühe Werke der Erinnerung an den Holocaust in Siebenbürgen

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Wiener Schiedsspruch bei Rumänien verblieben war, bis heute von einem bedeutenden Teil der rumänischen Behörden und Historiker bestritten wird. Ein Jahr später jedoch fanden die grausamen Geschichte über Mostovoi und im Allgemeinen über Transnistrien in der Arader Tageszeitung Szabadság (Freiheit) eine zusätzliche Bestätigung. Das Arader Blatt brachte einen erschütternden Artikel darüber, dass im Sommer 1942 auch aus Arad „mehrere Tausende“ nach Transnistrien deportiert worden waren, die früher von der jüdischen Religion zu einer anderen – christlichen – Religion konvertiert, Mitglieder linksgerichteter Bewegungen gewesen waren oder „einfach einen Reisepass nach Russland beantragen wollten“, was damals als der einzig gangbare Weg in die USA galt. Bei Ersteren war die Straf­aktion der rumänischen Behörden einfach nur durch jenen Umstand ausgelöst worden, dass die konvertierten, an die ungarische Kultur assimilierten südsiebenbürgischen Juden nicht etwa den rumänischen orthodoxen Glauben gewählt, sondern hauptsächlich die Zahl der Mitglieder der protestantischen, also der lutherischen und reformierten Kirchen vermehrt hatten. Tatsächlicher Grund dafür war aber die feste Absicht von General Ion Antonescu, das Land von jeder nationalen Minderheit zu säubern. Die Deportierten nach Transnistrien gelangten aus Arad zuerst nach Tiraspol, von wo ein Teil nach Berezovka, ein anderer nach Mostovoi verschleppt wurde. Laut Darstellung des Artikels konnten sich nur wenige aus den Fängen des deutschen und rumänischen Militärs bzw. der Gendarmerie retten und – die Grausamkeiten überlebend – nach Arad heimkehren.11 Aus anderen Quellen wissen wir mittlerweile, dass viele Arader auch nach Wapniarka, einem rumänischen KZ in der heutigen Ukraine, gekommen waren, bzw. welches Schicksal aus anderen südsiebenbürgischen Ortschaften nach Transnistrien deportierte Juden und Jüdinnen zu erleiden hatten.12 Dem südsiebenbürgischen Arbeitseinsatz wurde vom Temeschwarer Journalisten Sándor Grosz und seinem Kameraden László Fenyves, die bereits 1944 ein ­gemeinsames Buch über die unmenschlichen Verhältnisse in den diversen rumänischen Arbeitslagern veröffentlicht hatten, ein symbolisches Denkmal gesetzt.13 Mit Gedichten über den südsiebenbürgischen Arbeitseinsatz tat sich Anfang 1943 der ebenfalls aus Temeschwar gebürtige László Ernyes hervor. Er widmete seine Gedichte jenen, „mit denen ich gemeinsam vor Joch gespannt war am Olt, am Temesch, am Sereth und an der Donau“.14 Mit der wachsenden Zahl heimkehrender Deportierter kamen weitere Einzelheiten ans Tageslicht, worüber die lokale Presse auch regelmäßig berichtete. Bei der Verbreitung dieser Informationen spielte das Anfang Juli 1945 eingerichtete Klausenburger Volksgericht eine wichtige Rolle, dessen territoriale Zuständigkeit sich nun wieder auf ganz Siebenbürgen erstreckte. Im sogenannten Ghettoprozess, bei dem

11 A) és B) csoport a tiraszpoli szétosztásnál … Aradiak, akik csodával határos módon menekültek meg Iliescu ezredes transznisztriai tömeghóhér kezéből [=Die Gruppen A) und B) bei der Selektion in Tiraspol … Arader, die an einem Wunder grenzend aus den Händen des transnistrischen Massenhenkers General Iliescu entkamen], in: Szabadság, 19.10.1945, 3. 12 Vgl. USHMM – RG-31.004M.0019.00000251. 13 Sándor Grosz, 3 év zsidó kényszermunka. A romániai fasizmus fekete napjaiból. Ciuslea – Domneşti – Doaga. Pâncota. Lucăreţ [=Drei Jahre jüdische Zwangsarbeit. Aus den schwarzen Tagen des rumänischen Faschismus]. László Fenyves, Pâncota, Timişoara 1944. 14 László Ernyes, Ének a munkatáborból. Versek [=Lied aus dem Arbeitslager. Gedichte], Timişoara o.J. [1945]. Zoltán Tibori Szabó: Frühe Werke der Erinnerung an den Holocaust in Siebenbürgen

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im Mai 1946 die Urteile gefällt wurden, wurden zahlreiche weitere Details des Schicksals der nordsiebenbürgischen Jüdinnen und Juden bekannt.15 Alleine eine Publikation, die das ganze Ausmaß und die eigentlichen Grausamkeiten der Tragödie vermitteln konnte, ließ auf sich warten. Die Interviews mit den heimgekehrten Deportierten wurden zwar schon im Frühherbst 1945 in einem bescheidenen – heute als bibliophile Rarität geltenden – Band publiziert,16 doch die erste literarisch ambitionierte siebenbürgische Arbeit verließ erst im November 1945 die Druckerei Minerva. Füst (Rauch) des aus Klausenburg deportieren Juristen und Journalisten Ottó Kornis formulierte,17 dass Deportation und Todeslager nicht zu erklären seien: „Denn es gibt und es kann auch keine räsonierende weise Person geben, die erklären könnte, warum kleine Kinder ins Feuer geworfen werden konnten, Sprösslinge, deren unbefleckte Seelen offen waren für die Lehren des Hasses, ja, die sogar noch zu Faschisten hätten erzogen werden können von jemandem, der nicht nur böse ist, sondern zugleich auch zu denken vermag.“

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Titelblatt von Ottó Kornis‘ „Rauch“ 15 András Ádám, „A nép ellen vét, aki megbocsát a gyilkosoknak“. Megkezdte munkáját a kolozsvári népbíróság [=„Es ist eine Sünde gegen das Volk, wenn man den Mördern vergibt“. Das Klausenburger Volksgericht nahm seine Arbeit auf], in: Igazság [Klausenburg], 5.-11.7.1945, 4; Körömszakadtáig tagadnak a gettóper vádlottai. Megkezdődött a tanúk kihallgatása [=Die Angeklagten im Ghettoprozess leugnen bis zum letzten Augenblick], in: Világosság, 26.5.1946, 1; Elhangzott az ítélet a gettóper 185 vádlottja felett [=Das Urteil ist über die 85 Angeklagten des Ghettoprozesses gefallen], in: Világosság, 3.6.1946, 6; Az észak-erdélyi fasiszta bűnözők újabb csoportjának perében harminc halálos ítéletet és összesen 1204 évi börtönbüntetést hozott a kolozsvári Népbíróság. Az elítéltek között van dr. Csóka László, Reiner-Rajnay tábornok, Botos János és Szentiványi Gábor [=Im Prozess gegen eine neue Gruppe nordsiebenbürgischer faschistischer Verbrecher wurden vom Klausenburger Landesgericht dreißig Todesurteile und insgesamt 1.204 Jahre Haftstrafe verhängt. Unter den Verurteilten Dr. László Csóka, General Reiner-Rajnay, János Botos und Gábor Szentiványi], in: Igazság, 3.6.1946, 3. 16 Auschwitz! … Hazatért deportáltak megrázó elbeszélései az auschwitzi, majdaneki, birkenaui és lublin német halállágerek borzalmairól [=Auschwitz! … Erschütternde Erlebnisse der heimgekehrten Deportierten über die Grausamkeiten der deutschen Todeslager in Auschwitz, Majdanek, Birkenau und Lublin], zusammenge­ stellt v. István Somos, Kolozsvár 1945. 17 Kornis Ottó, Füst, Kolozsvár 1945. Zoltán Tibori Szabó: Frühe Werke der Erinnerung an den Holocaust in Siebenbürgen

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Kornis meinte, die Überlebenden würden ihr Leben Hunderten von Zufällen verdanken – und genau das könnten sie nicht verstehen: Warum nicht sie in den Krematorien geendet waren, warum gerade sie das lange Hungern ertragen konnten und warum gerade sie vom tödlichen Stich einer fiebernden Laus verschont geblieben waren. Dann fuhr er – durchaus mit Imre Kertész vergleichbar – fort: „Das sind unsere Fragen. Denn wir sind die Deportierten. Wir haben eigentümliche, skurrile Gedanken, die aus ganz besonderen Erinnerungen schöpfen, und oft starren wir mit weit aufgerissenen Augen einfach vor uns hin, so unwahrscheinlich erscheint es uns, dass es tatsächlich wir sind, die mit dem Leben weitermachen sollen: Wir sind doch Deportierte und bleiben das auch – für immer.“ Der zur Zeit der Deportation 33 Jahre alte, aus Großwardein gebürtige Kornis wurde mit 72 Schicksalsgenossen in Klausenburg in einen Viehwaggon gepfercht. Nur vier von ihnen sollten die Hölle der Todeslager überleben. In seinem Werk setzte er ein Mahnmal für alle, mit denen er gemeinsam Klausenburg verlassen musste, beschrieb eindrücklich den erzwungenen und so befremdlichen Abschied von seinen Eltern auf der Rampe in Birkenau, beschrieb Schritt für Schritt jenes höllische, demütigende NS-System: eine Ordnung, die einen zum Verzicht auf die eigene Menschenwürde veranlasst. Ottó Kornis klagte nicht über seine schweren Prüfungen, wollte mit seiner schwindenden Kraft keinen Chimären nachlaufen oder gar große Pläne für das Leben nach seiner Rettung schmieden. Er hatte resigniert, sein Schicksal akzeptiert, hatte nicht mehr aufbegehrt oder versucht zu fliehen, sondern sich nur mehr darauf konzentriert, die schwierigsten Situationen zu überleben. Und die hatte es in beachtlicher Zahl gegeben: in Auschwitz, Brieg, Gross-Rosen und schließlich in Langenbielau, wo er am Ende des Kriegs befreit wurde. Allein wirklich darüber freuen konnte er sich nicht: „Die Jungen lachten. Aber ich lache nicht mit. Was für ein mieses Gefühl steckt in mir? Ich schließe die Augen und halte mich an meinen Kameraden fest. Mir scheint, als würde ich wieder an jenem verregneten Morgen des Vorjahrs neben den Gleisen von Auschwitz stehen, wieder sehe ich meine Mutter in der Schlange, in ihrem schwarzen Mantel nach links gehend, ich sehe ihr ernstes Gesicht, wie sie mir zunickt, dann spüre ich die Wärme der Hände meines Vaters im Augenblick des Abschieds, im Augenblick des Abschieds, als sich unsere Hände auseinanderfalten, damit er nach links geht und ich nach rechts aufbreche, und sehe, ich sehe heute noch die riesengroße Rauchwolke am Himmel, den Rauch am Himmel, wie er sich über uns ausbreitet, über das Lager, über unsere ganze Vergangenheit und Zukunft, um seinen dunklen Schatten auf unser ganzes Leben zu werfen.“ Kornis wusste damals noch nicht, dass sich auch sein Leben dem Ende zuneigte. Nach seiner Heimkehr erschienen seine Artikel noch eine Zeit lang im Klausenburger sozialdemokratischen Blatt Erdély (Siebenbürgen) oder im Mai 1946 in der gerade gegründeten Klausenburger jüdischen Wochenzeitschrift Egység (Einheit). 1946/1947 taucht sein Name noch unter den Autoren der Zeitschrift Zsidó Naptár (Jüdischer Kalender) auf. Danach verließ er Klausenburg und zog nach Sathmar ­(Szatmárnémeti, Satu Mare), bald darauf nach Budapest. Die nächste Information über ihn ist im Budapester jüdischen Friedhof in der Kozmastraße zu finden:18 Er starb 1949, 38-jährig. Vier Jahre vor seinem Tod hatte Ottó Kornis Siebenbürgen und die ungarische Literatur schließlich mit der ersten literarischen Beschreibung des Holocaust berei18 Budapesti Kozma utcai zsidó temető: Parcella 10., Sor 7., 24A. számú sírban nyugszik Kornis Ottó / 1911–1949; http://www.oroklet.hu/bent.php?nyelv=2&igy=&kmod=5&tkod=0224&parcella=24A&sor=10&sir =7&szul etes=1911&elhalaloza=1949&nev=Kornis%20Ott%F3&prefix=&gmail=szenczins&gnev=&glakhely=&gid= (29.9.2014) – die von Lajos Boros im Internet publizierte Liste ist inzwischen nicht mehr zugänglich Zoltán Tibori Szabó: Frühe Werke der Erinnerung an den Holocaust in Siebenbürgen

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chert: Allein dieses Werk wurde beschwiegen, niemals professionell eingeschätzt oder rezensiert. Fast zeitgleich mit dem Band von Kornis erschien 1945 der erschütternde Band Miért? Egy deportált nő élményei a sárga csillagtól a vörös csillagig (Warum? Erlebnisse einer deportierten Frau vom gelben Stern zum roten Stern) aus der Feder von Anna Molnár Hegedűsné in Arad, worin die aus dem Komitat Sathmar deportierte Verfasserin ihre Erfahrungen in Auschwitz und anderen nationalsozialistischen Konzentrationslagern veröffentlichte.19 Ein Jahr später wurden ebenfalls in Arad die Memoiren von Dóra Ferencz herausgebracht, in denen die aus dem Klausenburger Ghetto deportierte Verfasserin über ihren Leidensweg in Auschwitz, Helmstedt, Magdeburg, Stutthof und Thorn berichtet.20 In Großwardein veröffentlichte József Gréda die frühesten Werke der Erinnerung an den Holocaust in seinem Gedichtband Fogózz a semmibe (Halte dich am Nichts fest), in dem er als Erster auf die seelischen Traumata der Überlebenden der nationalsozialistischen Hölle und auf ihre Folgen aufmerksam machte: „Nicht einmal eine Fotografie blieb erhalten! Der Wind, der verbrauste, / fegte die vielen geliebten süßen Gesichter weg, / und du fragst nur noch die vier nackten bloßen Wände, / ob du vielleicht nicht geboren bist, nicht von einer Mutter bist, / ob du tot bist, geblieben, um die anderen zu beweinen. // Daher achte nun, du armer, halte dich am Nichts fest, / an der von Erinnerung gefärbten Seide aus Bildern, Düften, Wörtern, / lerne erdulden, Herz, dich quälen, Hirn: / wenn dich die Erinnerung an die verschwundenen Nichtigkeiten nicht mehr brennt, / ohne dieses Nichts bist du selbst ein Nichts.“21 Das andere bedeutende und frühe Werk literarischer Qualität stammt ebenfalls aus der Feder eines Juristen und Journalisten. Dabei handelt es sich um den Reportageroman Várad a viharban (Großwardein im Sturm) von Béla Katona, erschienen 1946 in Großwardein (Oradea, Nagyvárad).22

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Titelblatt von Béla Katona „Wardein im Sturm“ 19 Molnár Hegedűsné Anna, Miért? Egy deportált nő élményei a sárga csillagtól a vörös csillagig [=Warum? Erlebnisse einer deportierten Frau vom gelben Stern zum roten Stern], Arad 1945. 20 Dóra Ferencz, Kápó voltam [=Ich war ein Kapo], Arad o.J. 21 József Gréda, Fogózz a semmibe [=Halte Dich am Nichts fest], Nagyvárad o. J. [1945]. 22 Béla Katona, Várad a viharban [=Großwardein im Sturm], Nagyvárad 1946. Zoltán Tibori Szabó: Frühe Werke der Erinnerung an den Holocaust in Siebenbürgen

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Das Vorwort zu Katonas Buch schrieb der Journalist Béla Zsolt, der ebenfalls im Ghetto von Großwardein gewesen und mit dem Kasztner-Transport gerettet worden war. Er bedankte sich bei dem Autor im Namen der Literatur und des Journalismus sowie „im Namen der Toten und der für die Erinnerung der Toten Lebenden“, da er in seinem Buch „ein Denkmal errichtet[e] für alle, denen nicht einmal ein Massengrab zuteil wurde, die aber als ewige niedrige Wolken an Europas Himmel treiben werden, bis sich der Vorhang des Himmels spaltet und das Jüngste Gericht kommen wird“. Für ihn gab es das „Várad, das kecke Várad von István Tisza, das nach Westen geschobene Várad von Endre Ady, das Várad unserer Jugend, unserer Ambitionen, Lieben, Lebensfreuden und unseres Familienglücks nicht mehr“.23 Béla Katona setzt quasi den Gedankengang seines Freundes und Glaubensgenossen fort und stellte die Geschichte der Stadt ab 1732 dar, angefangen mit der Gründung der ersten jüdischen Gemeinde der Siedlung, über die Geschichte der Jahre, als Großwardein als das „Paris am Ufer der Pece (Peța)“ galt, bis hin zum Holocaust. Deutlich sah er, dass ein „Sturm tobte, seine Blitze am Horizont zuckten.“ Die Juden von Großwardein standen für ihn aber unter der als eine Rechtsordnung benannten Traufe, dabei Strukturen vertrauend, die allein von ihren Hoffnungen und Sehnsüchten errichtet und von der suggestiven Kraft ihrer Gemeinschaft aufrechterhalten wurden. Aber sie hofften vergeblich auf ein Wunder, „der dunkelste historische Sturmwind“ erfasste die Gemeinschaft, „riss Stammbäume aus ihren Wurzeln, zerstörte die Hütten und Palaste zielloser Sehnsüchte, bunter Hoffnungen und erhabener Pläne“. Béla Katona trauerte in seinem Buch nicht nur einem entschwundenen Gemeinwesen nach, sondern „auch den verfallenen Tugenden“ seiner Stadt: Er widmete seine Arbeit der Nachwelt. Es war ihm bewusst, dass sich die Menschheit nach der Ermordung der sechs Millionen Juden sehr bald von den Erschütterungen erholen wird. „Die akute Infektion der Seele wurde nur vorübergehend neutralisiert, das absorbierte Gift wirkt erneut. […] Die weggeflogenen Seelen von sechs Millionen Menschen klopfen an den geschlossenen Türen. Die Judenfrage ist akuter denn je“: So seine Überzeugung.24 Béla Katona starb 1948, zwei Jahre nach der Veröffentlichung seines Buchs. Er beging – 57-jährig – Selbstmord. Im selben Jahr erschien in Großwardein das heute weltbekannte Buch Dr. Mengele boncoló orvosa voltam az Auschwitz-i  krematóriumban (Ich war Dr. Mengeles Assistent. Ein Gerichtsmediziner in Auschwitz)25 von Dr. Miklós Nyiszli.26 Obzwar, den dokumentarischen Wert seiner Arbeit anerkennend, mehrere ÜberTitelblatt von Miklós Nyiszli „Ich war lebende von Auschwitz später der Ansicht Mengeles Sezierer“ 23 Ebd., 5. 24 Ebd., 357-358. 25 Miklós Nyiszli, Ich war Dr. Mengeles Assistent. Ein Gerichtsmediziner in Auschwitz. Oświęcim 2004. 26 Dr. Miklós Nyiszli, Mengele boncoló orvosa voltam az Auschwitz-i krematóriumban, Nagyvárad 1946; Debrecen 1947. Auf Deutsch auch : Im Jenseits der Menschlichkeit. Ein Gerichtsmediziner in Auschwitz. A. d. Ung. v. Angelika Bihari, Berlin 1992. Zoltán Tibori Szabó: Frühe Werke der Erinnerung an den Holocaust in Siebenbürgen

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waren, dass Nyiszli „mehr schrieb als sezierte“, machte das internationale Echo des Buchs die Geschichte von Auschwitz und Dr. Mengele auch in Siebenbürgen allgemein bekannt. Das Buch wurde zu einem maßgebenden Dokument der internationalen Lagerliteratur, nachdem 1951 Jean-Paul Sartre einzelne Teile für seine politische, literarische und philosophische Zeitschrift Les Temps Modernes übersetzen hatte lassen.27 Die Berichte von Dr. Nyiszli wurden zur Zeit ihrer Veröffentlichung hinsichtlich ihres historischen Gehalts oft beanstandet, heute gesellt sich dazu auch die Kritik an der ethischen Dimension des Buchs.28

Titelblatt von Berner Mór, „Ach, mein auserwähltes Volk!“

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Der vierte wichtige Band schließlich erschien 1947 in Neumarkt am Mieresch (Marosvásárhely, Târgu Mureș). Der Verfasser, der 1902 geborene Dr. Mór Berner, der mit seiner vier Jahre jüngeren Frau, seiner zwölfjährigen Tochter und seinen neunjährigen Zwillingstöchtern deportiert worden war, beschrieb im Buch Óh, ­kiválasztott népem! (Ach, mein auserwähltes Volk!) die Ghettoisierung, Deportation und Vernichtung des Neumarkter Judentums in den Todeslagern.29 Im selben Jahr erschien in Klausenburg, ebenfalls im Minerva Verlag, der Roman Menekülés (Flucht) von Dénes Kertész, dessen Handlung sich um die Geschichte eines deportierten Mädchens drehte.30 27 Miklós Nyiszli, S. S. Obersturmführer Docteur Mengele. In: Les Temps Modernes 6 (1951) 65, 1655-1672; 6 (1951) 66, 1855-1886. 28 Marius Turda, The Ambiguous Victim: Miklós Nyiszli’s Narrative of Medical Experimentation in AuschwitzBirkenau, in: Historein 14 (2014) 1, 43-58. 29 Berner Mór, Óh, kiválasztott népem! [=Ach, mein auserwähltes Volk!], Marosvásárhely 1947. 30 Kertész Dénes, Menekülés (Egy deportált leány története – Regény) [=Flucht (Geschichte eines deportierten Mädchens – Roman], Kolozsvár 1947. Zoltán Tibori Szabó: Frühe Werke der Erinnerung an den Holocaust in Siebenbürgen

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Die publizierten Pressematerialien und Bände boten der siebenbürgischen Gesellschaft ausreichend Informationen, um die Natur und das Ausmaß der Tragödie des Judentums verstehen zu können. Hilfreich waren dabei auch jene Denkmäler, die von Juden zum Gedenken an die Ermordeten – in der Regel auf Friedhöfen, aber nicht selten auch auf öffentlichen Plätzen – errichtet wurden. Von den frühesten Denkmälern in jüdischen Begräbnisstätten sind vor allem jene im orthodoxen Friedhof von Klausenburg, im Friedhof von Sathmar, im Friedhof der Status­-QuoAnte-Gemeinde von Neumarkt und im jüdischen Friedhof von Szeklerkreuz (Székelykeresztúr, Cristuru Secuiesc) hervorzuheben.

Frühes Gedenken an die Opfer am jüdischen Friedhof von Székelykeresztúr

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An der Innenwand der Synagoge in Niklasmarkt (Gyergyószentmiklós, Gheorgheni) befestigten die Überlebenden schon 1949, also fünf Jahre früher als in der Pinkas-Synagoge in Prag, Marmorplatten, in die die Namen der 894 Opfer aus der Stadt eingraviert wurden.31 In Großwardein wurde 1946 neben der großen Synagoge ein imposantes Denkmal für die Ermordeten aufgestellt.

Gedächtnisplatten in der Synagoge von Gheorgheni 31 Vgl. Erős Blanka/Erős László, Soha nem engedem el a kezed [=Ich lasse Deine Hand nie los], Nagyvárad 1994, 130-140. Zoltán Tibori Szabó: Frühe Werke der Erinnerung an den Holocaust in Siebenbürgen

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In Sathmar erinnert das im orthodoxen jüdischen Friedhof, in Neumark das im Friedhof der Status-Quo-Ante-Gemeinde errichtete Denkmal an die Opfer der Gemeinde. Das erste und vielleicht bis heute schönste, an einem öffentlichen Platz aufgestellte Holocaustdenkmal befindet sich in Deesch (Dej, Dés). Seine Enthüllung fand im feierlichen Rahmen am 11. Juni 1947 statt. Die Statue wurde von dem in Neumarkt am Mieresch tätigen Bildhauer Márton Izsák angefertigt – einem Überlebenden des Zwangsarbeitseinsatzes, dessen Mutter und weitere 25 Verwandte in den Todeslagern ermordet worden waren.

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Holocaustdenkmal in Dej

Nachdem er den Auftrag aus Deesch erhalten hatte, erarbeitete er zwei Entwürfe: Das von der Komposition her kompliziertere Denkmal wurde 1947 in Deesch aufgestellt, das andere 56 Jahre später, 2003 in Neumarkt am Mieresch. Seine Gipsform wird heute in einer Kapelle des Friedhofs der Status-Quo-Ante-Gemeinde aufbewahrt. Márton Izsák wurde als Sohn von Jakab Izsák und Vilma Friedmann in der Ortschaft Galócás (Gălăuțaș) im Gyergyóer Becken (Depresiunea Giurgeului) geboren. Sein Vater kehrte aus dem Ersten Weltkrieg mit einer silbernen und einer goldenen Tapferkeitsmedaille heim, was ihm und seiner Familie zur Zeit der Judengesetze im Zweiten Weltkrieg Immunität hätte sichern müssen. Dies wurde jedoch von den Behörden außer Acht gelassen. Das Familienhaus in Galóca brannte im Ersten Weltkrieg ab und die Familie zog bald darauf nach Neumarkt am Mieresch, wo sie von den Einkünften ihres Lebensmittelgeschäfts lebte. Izsáks Lehrer wurden schon früh auf sein Talent als Holzschnitzer aufmerksam und ermutigten ihn zum Studium: 1929 immatrikulierte er an der Kunstgewerbeschule in Budapest, wo er bis 1933 – in den Meisterklassen von Lajos Mátrai und Imre Simay – Bildhauerei studierte. Seine, 1935 im Park der Budapester Sporthochschule aufgestellte Skulptur Sportoló fiú (Junger Sportler), befindet sich noch immer hier. 1935 war er jedoch schon wieder in Neumarkt am Mieresch tätig, wo er ein Atelier öffnete und von Auftragsarbeiten lebte. Eine Zeit lang betrieb er ein gemeinsames Atelier mit Olivér Pittner, einer führenden Figur der rebellischen Jungen der Künstlerkolonie von Nagybánya (FrauenZoltán Tibori Szabó: Frühe Werke der Erinnerung an den Holocaust in Siebenbürgen

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bach, Baia Mare). Seine Arbeiten präsentierte er 1936 und 1937 in Einzelausstellungen.32 Heute gehört er zu den bekanntesten Bildhauern von Neumarkt am Mieresch, seine berühmteste Arbeit ist das Skulpturenensemble A két Bolyai (Die beiden Bolyais) vor dem Bolyai Farkas Líceum, das er gemeinsam mit István Csorvássy angefertigt hat. Den Auftrag aus Deesch erhielt er 1946 von Zoltán Singer, dem Vorsitzenden des Demokratischen Jüdischen Volksverbands, der die offiziellen Genehmigungen besorgen und den hohen Betrag für die Fertigstellung der Statue akquirieren konnte. Der bekannte Orientalist, Sprach- und Literaturwissenschaftler Endre Antallfy schrieb über die im Juni 1947 in Deesch aufgestellte und enthüllte Statue in seiner Würdigung Fájdalom szobra (Statue des Schmerzes) für die jüdische Wochenzeitschrift Egység Folgendes: „Die Hauptfigur der Gruppe ist ein junger Mann mit einem intelligenten Gesicht, der sich unter einem Bündel krümmt. Rechts von ihm eine Frauenfigur, die ihr Kleinkind besorgt an ihre Brust drückt. Links von ihm eine ältere Frau, die frenetische Bewegung ihrer gehobenen Arme zeigt ihren seelischen Kollaps. Hinter der Gruppe ein älteres Mädchen, blühende Unschuld, blickt, ebenfalls einen Bündel am Rücken tragend, mit verwunderten Augen auf das verlassene Heim, auf den Hort ihrer Kinderspiele zurück. Das dramatische Schicksal einer Familie in einem einzigen Augenblick des Schreckens und des vernichtenden Schmerzes zusammengefasst.“33 So brachen wahrscheinlich einst die Juden von Deesch auf, als ihnen im Mai 1944 eine Notunterkunft unter freiem Himmel im Bungurwald nahe der Stadt zugewiesen wurde. Der Sockel passt eigentlich nicht zur Statue, an der schwarzen Marmortafel ist jedoch ein treffendes Zitat vom Propheten Jeremia zu lesen: „Schauet doch und sehet, ob irgendein Schmerz sei wie mein Schmerz, der mich getroffen hat …“34 Die andere Variante der Statue, Die Opfer des Faschismus wurde ein Jahr vor dem Tod des Künstlers, 2003 auf einem kleinen Platz des jüdischen Viertels in der Kossuthstraße aufgestellt. Ihre Gipsform stand jahrzehntelang im Atelier des Künstlers, aus dem sie von fürsorglichen Händen in die Kapelle des örtlichen Friedhofs der Status-Quo-Ante-Gemeinde gerettet wurde. Die namhafte Bukarester Kunstkritikerin Anna Halász berichtete nach ihrem Besuch in Izsáks Atelier äußerst eindrücklich von ihr: „Diese monumentale Statue fasst die ganze verfolgte Familie in einen einzigen großen, auf den ebenen Flächen ausgearbeiteten Block zusammen und es heben sich von dem felsartigen Block nur die Formen der Gesichter und Hände scharf ab.“35 Diese frühen siebenbürgischen Werke der Erinnerung an den Holocaust aus den Jahren 1945–1949 trugen in den Jahren des ‚großen Schweigens’ maßgeblich dazu bei, die Verbrechen gegen das Judentum bewusst zu machen, und lenkten die Aufmerksamkeit der jungen Generationen auf die Geschehnisse. Ihre ursprüngliche Funktion erfüllen sie auch heute restlos. 32 Murádin Jenő, Izsák Márton, Marosvásárhely 2007, 7-11. 33 Antalffy Endre, Fájdalom szobra [=Statue des Schmerzes], in: Egység, 13.6.1947, 3; der Artikel erschien zuerst im Tagblatt Szabad Szó in Marosvásárhely (Târgu Mureș, Neumarkt am Mieresch), die Egység veröffentlichte ihn anlässlich der Einweihung der Statue. 34 Vadász János, Bensőséges ünnepség keretében leplezték le a dési Deportáltak Emlékművét. „E szobor előtt esküszünk, hogy soha többet nem engedjük megismétlődni azt, ami történt“ – mondotta Gheorghe Neamţu, Szamosmegye főispánja [=In einer innigen Feier wurde das Denkmal der Deportierten in Dés enthüllt. „Vor dieser Staue schwören wir, wir werden nie wieder zulassen, dass sich das Geschehene wiederholt“, sagte der Obergespann des Komitats Sathmar Gheorghe Neamţu], in: Egység, 13.6.1947, 3. 35 Halász Anna, Izsák Márton műtermében [=Im Atelier von Márton Izsák], in: Előre [=Vorwärts], [Bukarest], 13.8.1960, 3. Zoltán Tibori Szabó: Frühe Werke der Erinnerung an den Holocaust in Siebenbürgen

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Zoltán Tibori Szabó Historiker, Journalist, College of Political, Administrative and Communication Sciences of the Babeş-Bolyai University of Cluj/Kolozsvár (Assoz. Professor); Leiter des Instituts für Holocaust- und Genozidstudien [email protected]; [email protected] Zitierweise: Zoltán Tibori Szabó, Frühe Werke der Erinnerung an den Holocaust in Siebenbürgen, in: S:I.M.O.N. – Shoah: Intervention. Methods. Documentation. 2 (2015) 1, 48-62. http://simon.vwi.ac.at/images/Documents/Articles/2015-1/2015-1_ART_Tibori/ART_Tibori.pdf Article Übersetzung: Amália Kerekes Lektorat: Verena Pawlowsky Karte Nordsiebenbürgens: Bálint Kovács S:I.M.O.N. – Shoah: Intervention. Methods. DocumentatiON. ISSN 2408-9192 Herausgeberkomitee des Internationalen Wissenschaftlichen Beirats: Gustavo Corni/Dieter Pohl/Irina Scherbakowa Redaktion: Éva Kovács/Béla Rásky/Philipp Rohrbach Web-Editor: Sandro Fasching Webmaster: Bálint Kovács PDF-Grafik: Hans Ljung S:I.M.O.N. ist das halbjährlich in englischer und deutscher Sprache erscheinende E-Journal des Wiener Wiesenthal Instituts für Holocaust-Studien (VWI).

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