Forschungskontroversen. zum Nationalsozialismus. Seit einigen Jahren steht die Geschichte der. Hans Mommsen

October 7, 2017 | Author: Emilia Schmid | Category: N/A
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bedrångten Menschen geholfen, aber Millionen Unschuldiger hinmorden lassen, und keinerlei Protest wurde laut.ª Meitners cri de cúur, der an Hahn und damit an die prominentesten Naturwissenschaftler Deutschlands gerichtet war, von denen keiner ein aktives Parteimitglied, keiner in verbrecherische Aktivitåten verwickelt gewesen war, håtte ebensogut der gesamten intellektuellen und geistlichen Elite des Reiches (selbstverståndlich mit einigen Ausnahmen) sowie weiten Teilen der Eliten in den besetzten Låndern und den Satellitenstaaten Europas gelten kænnen.

Hans Mommsen

Ein noch beunruhigenderer Aspekt derselben Frage zeichnet sich mit Blick auf die Haltung der christlichen Kirchen ab. In Deutschland hat ± wiederum mit Ausnahme weniger, von denen keiner den hæheren Rången der evangelischen oder der katholischen Kirche angehærte ± kein protestantischer Bischof, kein katholischer Prålat æffentlich gegen die Vernichtung der Juden protestiert. Als Månner guten Willens wie Bischof Konrad Preysing aus Berlin oder der wçrttembergische Bischof Theophil Wurm, die Stimme der Bekennenden Kirche, angewiesen wurden, ihre Versuche des vertraulichen Protestes einzustellen, fçgten sie sich.

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Und wenn wir berçcksichtigen, dass sich im Allgemeinen ± sieht man von begrenzten Protesten in den Niederlanden und von denjenigen mehrerer franzæsischer Bischæfe ab, die in einigen Fållen widerrufen wurden ± die deutsche Situation in den meisten Låndern des besetzten Europas wiederholte, dann erhålt diese Frage ihr volles Gewicht. Dass keine nennenswerte Anzahl von Persænlichkeiten, die zur intellektuellen oder geistlichen Elite Europas zåhlten, æffentlich ihre Stimme gegen die Ermordung der Juden erhob, låsst sich leicht verstehen. Dass auf der gesamten europåischen Bçhne nicht einmal einige wenige Stimmen in diesem Sinne laut wurden, ist verwirrend. Dass in Deutschland nicht eine einzige Persænlichkeit von Format bereit war, sich zu Wort zu melden, bleibt ebenso wie zahlreiche andere Aspekte dieser Geschichte eine fortwåhrende Quelle der Fassungslosigkeit.

Forschungskontroversen zum Nationalsozialismus eit einigen Jahren steht die Geschichte der nationalsozialistischen Zeit weniger stark im Mittelpunkt der historischen Forschung, wåhrend der Geschichte der Bundesrepublik und der DDR zunehmende Aufmerksamkeit gewidmet wird, ja als Reaktion auf die Wiedervereinigung geradezu ein Ûbergewicht der DDR-Forschung zu verzeichnen ist. Dabei Hans Mommsen scheint die historische Dr. phil., geb. 1930; em. O. ProPerspektive des Dik- fessor für Neuere Geschichte an taturvergleichs den der Ruhr-Universität Bochum; Blick auf das Alltags- korrespondierendes Mitglied leben und die soziale der British Academy und der Lage der Bevælkerung Österreichischen Akademie der der DDR eher unter- Wissenschaften; Mitglied der belichtet zu haben, deutsch-tschechischen und obwohl vor allem deutsch-slowakischen HistoriLutz Niethammer ker-Kommission sowie der und seine Mitstreiter Weiûe Rose-Stiftung e.V.; mit der Entfaltung Possenhofener Straûe 14, der Oral History we- 82340 Feldafing. sentlich dazu beige- [email protected] tragen haben, diese Lçcke im bislang stark von Westdeutschland her geprågten Bild der DDR auszufçllen. 1 Bei der NS-Forschung hingegen ist eine deutliche Schwerpunktverschiebung zu konstatieren. Sie hångt einerseits damit zusammen, dass seit einer Reihe von Jahren die Judenverfolgung und der Holocaust zum zentralen Paradigma der Behandlung des Dritten Reiches geworden sind. Zwar hat sich die so genannte ¹Tåterforschungª auch auf andere 1 Vgl. Lutz Niethammer, Drei Fronten, ein Fehlschlag und das Unbewuûte der Aufklårung, in: Norbert Frei (Hrsg.), Was heiût und zu welchem Ende studiert man Geschichte des 20. Jahrhunderts, Gættingen 2006, S. 113 ff.

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verfolgte Gruppen, etwa die Sinti und Roma, ausgeweitet, aber im Mittelpunkt steht die Frage nach der direkten und indirekten Beteiligung von Funktionstrågern des Regimes an der Judenvernichtung. Dabei tritt die individuelle Schuld und weltanschauliche Indoktrination in den Vordergrund und wird tendenziell von den politischen Prozessen, die zur ¹Endlæsungª gefçhrt haben, abgekoppelt. Daraus ergibt sich eine Ex-Post-Sicht, welche die einzelnen Verlåufe in einen stufenfærmigen Prozess rassenpolitischer Radikalisierung einordnet, der notwendig in der Shoah endet. Parallel dazu hat sich die Zahl der Studien zur nationalsozialistischen Lagergesellschaft, insbesondere zur Geschichte der Konzentrationslager vervielfacht. Zugleich konzentriert sich die Forschung auf die Instrumente des Terrors. Neben der bahnbrechenden Studie von Michael Wildt çber das Personal des Reichsicherheitshauptamtes liegt eine Fçlle von Studien zu den einzelnen Apparaten im Bereich von SS und Polizei vor, die eingehende Informationen çber die politisch-weltanschauliche Indoktrination der an der Vernichtungspolitik des Regimes aktiv beteiligten Tåtergruppen vermitteln. Den Anfang machte die verdienstvolle Untersuchung von Christopher Browning. 2 Zugleich haben sich die verfçgbaren Daten çber die Repression gegen die Arbeiterschaft, in erster Linie die Zwangsarbeiter, darunter das System der Arbeitserziehungslager, entscheidend erweitert. 3 Eine åhnliche Ausweitung der Forschung ist auch fçr andere Politikbereiche zu verzeichnen, so fçr den Komplex der Euthanasie und der Eugenik. Davon ausgehend liegen aufschlussreiche Studien çber die privilegierte Stellung der Ørzte und ihre aktive Unterstçtzung der Rassenpolitik vor. In den vergangenen Jahren ist auch der bis dahin eher vernachlåssigte Bereich der Wissenschaftspolitik als Bestandteil der NS-Politik berçcksichtigt worden. Einerseits stellt sich immer klarer heraus, dass sich groûe Teile der Hochschullehrer und Akademiker, auch wenn sie nicht immer den vorgegebenen Linien der NS-Wis2 Vgl. Christopher R. Browning, Ganz normale Månner. Das Reserve-Polizeibataillon 191 und die ¹Endlæsungª in Polen, Reinbek 1993. 3 Vgl. Gabriele Lotfi, KZ der Gestapo. Arbeitserziehungslager im Dritten Reich, Frankfurt/M. 2003.

senschaftspolitik zustimmten, in den Dienst der Ostraumexpansion gestellt oder mit dem Programm rassischer Homogenisierung sympathisiert haben. 4 Die Vorstellung, dass die Wehrmacht sich bis in die letzten Kriegsmonate hinein eine gewisse Autonomie bewahrt und von der verbrecherischen Politik des Regimes freigehalten hat, ist nicht erst durch die Hamburger Wehrmachtsausstellung vollståndig widerlegt worden. Von der jçngeren Forschung ist die Mitverantwortung namentlich der Armeefçhrung im Einzelnen nachgewiesen worden. Auch wohlmeinende Bestrebungen, die Angehærigen der Militåropposition von dem Vorwurf freizusprechen, jedenfalls zunåchst die von Hitler proklamierte Linie des ¹Rassenvernichtungskriegesª unterstçtzt und die Tåtigkeit der Einsatzgruppen gebilligt zu haben, erwiesen sich als unhaltbar. 5 Vielmehr zeigen jçngste Forschungen, dass die Generalitåt aus unterschiedlichen Motiven heraus die Vernichtungspolitik gegençber der Sowjetunion gedeckt und bejaht hat. Prominente Vertreter des ¹Anderen Deutschlandª waren zumindest anfånglich in die kriminellen Zielsetzungen des Regimes verstrickt, wenngleich sie ± allerdings erst sehr spåt ± den Entschluss zum Bruch mit Hitler und dem Fçhrerstaat fassten.

Funktionalismus vs. Ideengeschichte Bereits seit den 1960er Jahren hatten sich die zeitgeschichtliche Forschung und Publizistik in Deutschland zunehmend dem Schicksal der Opfer des Regimes zugewandt, wobei dieser Begriff eine zunehmend moralische Fårbung gewann und in einem sehr breiten, nicht nåher definierten Sinn verwandt wurde. Die Fokussierung des Erkenntnisinteresses auf die vom NS-Regime verfolgten und ideologisch ausgegrenzten Gruppen war mit einer 4 Vgl. Doris Kaufmann, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus. Bestandsaufnahme und Perspektiven der Forschung, Bd. I,1, Gættingen 2000, S. 9± 20, sowie Michael Grçttner, Wissenschaftspolitik im Nationalsozialismus, in: ebd., Bd. I, 2, S. 557± 584. 5 Vgl. Johannes Hçrter, Hitlers Heerfçhrer. Die deutschen Oberbefehlshaber im Krieg gegen die Sowjetunion 1941/42, Mçnchen 2006; ders./Felix Ræmer, Alte und neue Geschichtsbilder vom Widerstand im Ostkrieg, in: Vierteljahrshefte fçr Zeitgeschichte, 54 (2006), S. 301 ±322.

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Tendenz zur Ausblendung der politischen Prozesse verknçpft. Die Inflation des Opferbegriffs schlug seit den 1990er Jahren in verstårktes Interesse an den verantwortlichen Akteuren um. Den Einsatzpunkt stellte die monumentale Biographie von Ulrich Herbert çber Werner Best dar. Fragen zur vergleichenden Typologie und Motivation der Tåter traten zunehmend in den Mittelpunkt der Forschung. 6 Zahlreiche jçngere Studien, angeregt von den Arbeiten Herberts, zielen darauf ab, mittels der Aufschlçsselung der Rolle und Motivation der ¹Tåterª gleichsam das Bewegungsgesetz der NS-Diktatur erfassen zu kænnen. 7 Diese Bestrebungen verknçpfen sich håufig mit einer Kritik an der funktionalistischen Schule, die durch die Hervorhebung struktureller Faktoren dazu tendiere, die schuldhafte Verstrickung der Handelnden zu verdecken. Dies reicht bis zu dem Vorwurf, die ¹Funktionalistenª håtten die Person Adolf Hitler nicht durch benennbare Personen oder Gruppen, sondern durch abstrakte Strukturen ersetzt und Tåter und Opfer in gleicher Weise anonymisiert. 8 Damit verbindet sich die Unterstellung, der Funktionalismus sei durch ¹eine Tendenz zur Entsubstantialisierung der realen Geschichteª und ¹eine ostentative Vernachlåssigung von Weltanschauung und Ideologieª gekennzeichnet. 9 Die Kontroverse reicht bis zu dem Vorwurf einer ¹zweiten Entnazifizierungª und der zugespitzten Polemik, es drånge sich der Eindruck auf, dass die Schuld Hitlers begrenzt werden solle 10 und dass die Akteure des ¹Verwaltungsmassenmordsª als ¹willenlose Objekteª und ¹hilflose Befehlsempfångerª gezeichnet wçrden. 11 6 Vgl. Ulrich Herbert, Best. Biographische Studien çber Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft. 1903± 1989, Bonn 2001. 7 Vgl. Gerhard Paul/Klaus-Michael Mallmann (Hrsg.), Karrieren der Gewalt. Nationalsozialistische Tåterbiographien, Darmstadt 2004. 8 Vgl. Ulrich Herbert, The Holocaust in German History. Some Introductory Remarks, in: Moshe Zimmermann (Hrsg.), On Germans and Jews under the Nazi Regime, Jerusalem 2006, S. 74. 9 Vgl. Nicolas Berg, Der Holocaust und die westdeutschen Historiker. Erforschung und Erinnerung, Gættingen 2003, S. 513. 10 Vgl. U. Herbert (Anm. 8), S. 74; N. Berg (Anm. 9), S. 513. 11 Gerhard Paul (Hrsg.), Die Tåter der Shoah im Spiegel der Forschung, in: ders. (Hrsg.), Die Tåter der Shoah. Fanatische Nationalsozialisten oder ganz nor-

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Nimmt man die çberschçssige Polemik weg, bleibt die Behauptung, die Funktionalisten håtten einer Beschænigung der NS-Verbrechen in die Hånde gearbeitet und der Exkulpierung zahlreicher Funktionstråger des Regimes Vorschub geleistet. Die Zuspitzung von Dan Diner, die Funktionalisten håtten ¹Verantwortungª durch ¹Strukturª ersetzt, 12 ist jedoch absurd und endet in historischem Personalismus. Der tiefere Grund des Dissenses liegt in der ausgeprågt ideengeschichtlichen Tendenz der von Herbert ins Leben gerufenen Schule, die zugleich moralischen Gesichtspunkten verpflichtet ist. 13 Doch die zeitgeschichtliche Forschung in Deutschland ist nur in untergeordnetem Maûe dafçr verantwortlich zu machen, dass die Verfolgung von NS-Verbrechen nur schleppend erfolgte und die Initiative dazu bei der Justiz lag. Bei allen Verdiensten des biographiegeschichtlichen Zugriffs fçr ein tieferes Verståndnis der Funktionsweise des NS-Herrschaftssystems stæût dieser auf methodische und sachliche Grenzen. Das gilt zunåchst fçr die nur beschrånkte Verfçgbarkeit biographischer Quellen schon bei Angehærigen der Mittelklasse, wåhrend politische Einstellungen und Haltungen von Vertretern der Unterschichten nur ausnahmsweise mit individuellen Zeugnissen rekonstruiert werden kænnen. Wichtiger erscheint, dass der græûere Teil gerade der an der Gewaltentfesselung im Regime unmittelbar Beteiligten biographiegeschichtlich kaum erfassbar ist und ihre Handlungen in die Trivialitåt des Unsagbaren absinken, was exemplarisch in der Studie Karin Orths çber die Konzentrationslager zum Ausdruck kommt. 14 Die Tåterforschung ± etwa in der grundlegenden Untersuchung von Michael Wildt 15 ± orientiert sich an male Deutsche (Dachauer Symposien zur Zeitgeschichte, Bd. 2), Gættingen 2002, S. 20 ff.; Ulrich Herbert, Vernichtungspolitik. Neue Antworten und Fragen zur Geschichte des ¹Holocaustª, in: ders. (Hrsg.), Nationalsozialistische Vernichtungspolitik 1939± 1945, Frankfurt/M. 1998, S. 21. 12 Vgl. N. Berg (Anm. 9), S. 566. 13 Herbert verweist nachdrçcklich auf die Ursprçnge Bests im vælkischen Lager, um dessen Rolle im SS-Apparat zu erklåren. 14 Vgl. Karin Orth, Die Konzentrationslager der SS. Sozialstrukturelle Analysen und biographische Studien, Gættingen 2000. 15 Vgl. Michael Wildt, Generation des Unbedingten. Das Fçhrungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2002.

einem bestimmten Typus des NS- und SSFunktionårs, der in der Regel einen akademischen oder doch intellektuellen Hintergrund hat. In der Masse der Fålle lassen sich çber politisch-weltanschauliche Handlungsmotive jedoch keine hinreichenden Aussagen machen, 16 und es stellt sich ohnehin die Frage, welche Relevanz ihnen zukommen wçrde. Ungeachtet der betråchtlichen Leistungen, welche die ¹Tåterforschungª aufzuweisen hat, ist doch unverkennbar, dass sie an Grenzen stæût, die nicht dem Mangel an biographischen Informationen zuzuschreiben sind. Schon der Begriff des ¹Tåtersª umgreift einen Typus, der in den weltanschaulich aufgeladenen bçrokratischen Apparaten des Regimes anzutreffen ist, aber auf die ¹Macherª im engeren Sinne ± die hohen NS-Chargen ± kaum angewandt werden kann, deren intellektuelle und menschliche Mediokritåt sich einer sinnvollen biographischen Darstellung entzieht. Das Medium der historischen Biographie erscheint daher nur bedingt geeignet, die politisch-gesellschaftlichen Strukturen des Dritten Reiches aufzuschlçsseln, die durch eine systematische Erosion der Autonomie der Individuen zugunsten von deren instrumenteller Verfçgbarkeit fçr die Zwecke des Regimes gekennzeichnet sind. Fçr die NS-Herrschaft ist es gerade charakteristisch, dass Tåter durchweg als Kollektive, jedenfalls stets in bçrokratischen oder kameradenhaften Zusammenhången handeln, hinter denen die individuellen Charaktere zurçcktreten. Als ursprçnglich primår juristisch determinierte Kategorie zielt der Tåterbegriff auf ein sachlich abgrenzbares und individuell verantwortliches Handeln. Neben der Ermordung von Juden, Sinti und Roma stehen die Euthanasie, Menschenversuche und die Verbrechen in den Konzentrationslagern und den Repressionsapparaten des Sicherheitsdienstes, der Ordnungspolizei und der Zivilverwaltung im Vordergrund. Die zahlreichen neueren Arbeiten zu diesem Bereich 17 haben dazu beigetragen, das extreme Ausmaû der Kriminalisierung der NS-Gesellschaft aufzudecken und 16 Vgl. Dieter Pohl, Die Ermordung der Juden im Generalgouvernement, in: U. Herbert (Anm. 11), S. 110 ff. 17 Vgl. Gerhard Paul, Einleitung, in: ders. (Anm. 11); Michael Mallmann/Gerhard Paul, Sozialisation, Milieu und Gewalt. Fortschritte und Probleme der neueren Tåterforschung, in: dies. (Anm. 7), S. 1 ± 32.

der ålteren Vorstellung den Boden zu entziehen, nach der die Verbrechen des Regimes nur von kleinen Minderheiten im Umfeld der SS begangen worden seien. Sie zeigen zugleich, dass von einem einheitlichen Tåtertypus nicht gesprochen werden kann und dass die politische Sozialisation der Vollstrecker in den Apparaten der SS, Polizei und NSDAP den maûgeblichen Faktor fçr die Bereitschaft darstellte, sich in den Dienst der Vernichtungspolitik zu stellen, wåhrend die vælkischideologische Vorprågung in der Weimarer Zeit nur von untergeordneter Bedeutung ist. In seiner Untersuchung des Fçhrungskorps des Reichssicherheitshauptamtes gelangt Michael Wildt zu dem Resultat, dass der strukturelle Einfluss der ¹SS-Weltanschauungsbçrokratieª maûgebend war, um die Tåter zum ihnen abverlangten Mordhandwerk zu motivieren. 18 Der methodische Zugriff, mittels einer vergleichenden Biographieforschung und eines wie auch immer differenzierten Tåterbegriffs die fçr die NS-Diktatur charakteristische Gewalteskalation und Entgrenzung des Verbrechens zu erklåren, ist daher nur begrenzt ergiebig. Die Dynamik des Prozesses kumulativer Radikalisierung, die fçr das NS-System kennzeichnend ist, geråt dabei nicht in den Blick, und die Analyse der engeren Fçhrungsgruppe ergibt ein eher einfærmiges Bild. Insofern bietet die Tåterforschung keine Alternative, sondern nur eine Ergånzung der funktionalistischen Methode, die die zerstærerische Dynamik des NS-Herrschaftssystems strukturell und nicht allein ideologisch zu erklåren sucht. Die Tåterforschung ist in der Regel mit einer Hervorhebung der weltanschaulichen Faktoren verbunden, und sie hat das Verdienst, nachgewiesen zu haben, dass gerade in den Verfolgungsapparaten extrem antisemitische Einstellungen handfest gewirkt haben, wie umgekehrt die Funktionalisten dazu neigten, in der Gegenbewegung zur herrschenden Meinung den ideologischen Faktor gegençber den systemischen und bçrokratischen Bedingungen zu gering einzuschåtzen. Mittlerweile haben sich in der Forschung die Standpunkte angenåhert, denn es ist evident, dass weltanschauliche Motive fçr sich nicht ausreichten, die Eskalation der Vernichtung 18

Vgl. M. Wildt (Anm. 15), S. 856 ff. APuZ 14 ± 15/2007

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voranzutreiben. Um die tædliche Interaktion zu beschreiben, die sich seit 1941 zwischen den lokalen Machthabern und dem Reichssicherheitshauptamt vollzog, bedarf es einer Analyse des komplexen Zusammenwirkens rivalisierender Instanzen, auch wenn sich vor Ort ein Zusammengehen aufdrångte. 19

Kumulative Radikalisierung Michael Wildt hat in seiner eindrucksvollen Analyse der ¹Generation des Unbedingtenª ein faszinierendes Psychogramm der Fçhrungsgruppe des Reichssicherheitshauptamtes erstellt. Im Unterschied zu den politischen ¹Hoheitstrågernª, also der engeren Funktionårselite der Partei, zeichnet sich der in den Apparaten der SS herangezçchtete Tåtertypus durch technokratische Effizienz und bçrokratische Disziplin aus. Er arbeitet den Typus einer spezifischen ¹Weltanschauungsbçrokratieª heraus, deren besondere Mentalitåt dem kontinuierlichen Radikalisierungsprozess sowohl bezçglich der Herrschaftsmethoden wie der langfristigen Zielsetzungen zugrunde liegt, und erhebt den Anspruch, damit die ¹Kontroverse um Intention und Funktionª auflæsen zu kænnen. 20 Doch handelt es sich bei der Mentalitåt des SS-Fçhrungskorps um einen Sonderfall der sich in den NS-Fçhrungsgruppen durchsetzenden Bindungslosigkeit und Amoralitåt, die in den von Hitler gefeierten neuen Fçhrertypen im Osten kulminierten. 21 Die diversifizierte Forschung des vergangenen Jahrzehnts vermittelt den Eindruck einer gewissen inneren Kompaktheit des NS-Regimes, dem es gelang, fast alle Politikbereiche ideologisch zu durchdringen. Dabei tritt der hochgradig fluktuierende Charakter der NSPolitik unterhalb der ideologischen Fernziele allzu leicht in den Hintergrund. Denn der inneren Stabilisierung des NS-Herrschaftssystems bis 1938/39 folgt mit dem Ausbruch und der Ausweitung des Zweiten Weltkrieges eine schleichende Auflæsung des zentralen Regierungsapparates, der in der letzten Phase Vgl. D. Pohl (Anm. 16), S. 113 f. M. Wildt (Anm. 15), S. 856 f. 21 Vgl. Hans Mommsen, Der Krieg gegen die Sowjetunion und die deutsche Gesellschaft, in: Bianka Pietrow-Ennker (Hrsg.), Pråventivkrieg. Der deutsche Angriff auf die Sowjetunion, Frankfurt/M. 2000, S. 65 f. 19 20

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des Krieges in eine zunehmende Ûberschneidung der Kompetenzen zwischen innerer und allgemeiner Verwaltung, Parteiapparat, Reichssicherheitshauptamt und Sonderverwaltungen çberging. 22 Abgesehen davon ist das Ausmaû von Improvisation, von unkontrolliertem Wildwuchs der Sonderverwaltungen und der allenthalben um sich greifenden ungeheuren Korruption schwerlich zu unterschåtzen. 23 Von den unerhærten zerstærerischen und verbrecherischen Auswirkungen der NS-Politik darf nicht auf deren innere Rationalitåt und Konsistenz geschlossen werden, wie çberhaupt deren kurzfristig ephemerer Charakter allzu leicht çbersehen wird. Mit der Fokussierung der Forschungsdiskussion auf die Implementierung des Holocaust und die Vernichtungspolitik gegen ¹Fremdvælkischeª ist die Frage nach den Ursachen der sich ståndig steigernden Dynamik des Herrschaftssystems eher in den Hintergrund getreten. Die nach und nach alle Politikfelder erfassende weltanschauliche Durchdringung erklårt zwar, warum sich gegen die Vernichtungspolitik des Regimes keine signifikanten Widerstånde bei den traditionellen Eliten wie bei den gemåûigt eingestellten Mitgliedern der NSDAP und ihrer angegliederten Verbånde einstellten. Aber die Ursachen des kumulativen Radikalisierungsprozesses, der das NS-System kennzeichnet, sind nicht einfach auf ideologische Fanatisierung zu reduzieren. Damit sich die Propaganda ¹beim Wort nehmenª konnte, also ideologische Fernziele in reales politisches Handeln umgesetzt wurden, bedurfte es spezifischer, im politischen System selbst angelegter Faktoren. 24 In den vergangenen Jahren ist diese Radikalisierung çberwiegend auf Hitlers weltanschaulichen Fanatismus und auf dessen direkte und indirekte Eingriffe zurçckgefçhrt worden. Dies ist die Quintessenz zweier sonst so unterschiedlich ausgerichteter Ge22 Vgl. den Ûberblick bei Dieter Rebentisch, Fçhrerstaat und Verwaltung im Zweiten Weltkrieg, Stuttgart 1989, S. 499 ff., S. 533 ff. 23 Vgl. vor allem Frank Bajohr, Parvençs und Profiteure. Korruption in der NS-Zeit, Frankfurt/M. 2004. 24 Diese Formel findet sich bei Martin Broszat, Soziale Motivation und Fçhrerbindung im Nationalsozialismus, in: ders. (Hrsg.), Nach Hitler. Der schwierige Umgang mit unserer Geschichte, Mçnchen 1988, S. 32 f.

samtanalysen wie Saul Friedlånders eindrucksvollem Werk zur Geschichte des Holocaust und Richard Evans Geschichte des Dritten Reiches. 25 In beiden Darstellungen geht die Triebkraft des Geschehens primår von Hitler aus, wenn auch ideologische bzw. antisemitische Voreinstellungen in der Bevælkerung komplementår einwirkten. Der entscheidende Faktor liegt nach Friedlånder in der ¹persænlichen Wirkungª Hitlers und dessen ¹zwanghaftem Antisemitismusª, der auf eine in Deutschland schon långer herausgebildete ¹antijçdische Kulturª getroffen sei. Er greift auf die im Sinne seiner çbergreifenden Interpretation nach nicht unbedingt notwendige Auffassung zurçck, Hitler habe am 12. Dezember 1941 einen umfassenden Befehl zur Implementierung der Shoah gegeben. 26 Gleichwohl wird die Frage, in welchem Umfang Hitler ± ungeachtet seiner uneingeschrånkten Vetomacht ± den politischen Entscheidungsprozess der letzten Jahre des Regimes maûgebend geprågt hat und wie stark der Anteil nachgeordneter Machttråger, nicht zuletzt Heinrich Himmlers gewesen ist, nach wie vor unterschiedlich beurteilt. In seiner Hitler-Biographie hat Ian Kershaw das Wechselverhåltnis zwischen den politischen Initiativen des Diktators und den Erwartungshaltungen seiner Anhånger betont und damit den Ansatz Martin Broszats fortgefçhrt, nach dem dieser, indem er sich an vorherrschende Ressentiments und Stimmungen anpasste, als Produkt der ihn umgebenden Gesellschaft betrachtet werden mçsse. 27 In der Tat besteht weitgehende Einigkeit in der Forschung, dass von einer Interaktion zwischen der Zentrale und den Vollstreckern vor Ort auszugehen ist. 28 In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, wie stabil der Fçhrerkult ± insbeson25 Vgl. Saul Friedlånder, Die Jahre der Vernichtung. Das Dritte Reich und die Juden 1939±1945, Mçnchen 2006; Richard J. Evans, Das Dritte Reich, Bd. 2, Mçnchen 2006; dazu Hans Mommsen, Terror und Angst, in: Die Zeit, November 2006, S. 17 f. 26 Vgl. Christian Gerlach, Die Wannseekonferenz, das Schicksal der deutschen Juden und Hitlers politische Grundentscheidung, alle Juden Europas zu vernichten, in: Werkstatt Geschichte, 6 (1997), S. 7 ±44. 27 Vgl. Ian Kershaw, Hitler 1889±1936, Stuttgart 1998, S. 26 f.; M. Broszat (Anm. 24), S. 127 ff. 28 Vgl. Ulrich Herbert, Die deutsche Militårverwaltung in Paris und die Deportation der franzæsischen Juden, in: ders. (Anm. 11), S. 208.

dere mit dem Fortgang des Ostkrieges ± gewesen ist. Zwar gelang es der Goebbels'schen Propaganda, die Person Hitlers als des ¹Fçhrers der Nationª zur einer çbermenschlichen Figur zu machen. Sie vermochte es, Attribute nationaler Identitåt auf dessen Person zu çbertragen und alternative nationale Identifikationsmæglichkeiten abzublocken. Dadurch wurde die Figur Hitlers von der an der Partei, den Bonzen und der SS artikulierten Kritik unter der Formel ¹Wenn das der Fçhrer wçssteª von der Verantwortung fçr Niederlagen, Verbrechen und Missstånde ausgenommen. Gleichwohl beeintråchtigte der Krieg gegen die Sowjetunion seine Popularitåt, und sie ging in dem Maûe zurçck, in dem sich die militårischen Niederlagen nach Stalingrad håuften. Gleichwohl blieb der Fçhrerkult gerade fçr diejenigen Funktionåre, die alle Brçcken hinter sich abgebrochen sahen, bis zuletzt erhalten und erwies sich als wirksames Mittel, um sie zum Durchhalten zu bewegen.

¹Gefålligkeitsdiktaturª? Es ist indessen fragwçrdig, die politische Tragfåhigkeit der von Goebbels wirkungsvoll beschworenen ¹Volksgemeinschaftª zu hoch zu bewerten. Es ist bezeichnend, dass die NSFçhrung, wie Gætz Alys Studie çber ¹Hitlers Volksstaatª eindrçcklich zeigt, 29 die Belastungsfåhigkeit der Bevælkerung vergleichsweise gering einschåtzte und sich scheute, den breiten Massen erhæhte Steuern aufzuerlegen. Das Regime war stattdessen bestrebt, durch die ækonomische und finanzpolitische Ausbeutung der besetzten Lånder die materielle Versorgung des Altreichs auf einem ertråglichen Niveau zu halten. Fçr diese bis zuletzt durchgehaltene Politik besaûen die Erfahrungen der Kriegswirtschaft im Ersten Weltkrieg entscheidende Bedeutung. Um sich die Sympathien der Bevælkerung zu sichern, sorgte Martin Bormann dafçr, dass die Versorgung der Bombengeschådigten und der aus den bedrohten Grenzgebieten ausgesiedelten Bevælkerung ausschlieûlich bei der Partei bzw. der NS-Volkswohlfahrt lag, die in ihrem Auftrag tåtig war. 29 Vgl. Gætz Aly, Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt/M. 2005, S. 66 ff.

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Detaillierte Regionalstudien wie jçngst Jill Stevensons Analyse von ¹Hitler's Home Frontª in Wçrttemberg zeigen jedoch eindrçcklich, dass der Grad des innenpolitischen Konsenses bei den ¹Volksgenossenª sehr geteilt war, auch wenn sie sich nach auûen hin dem diktatorischen Regime unterwarfen, da es keine Mæglichkeit gab, ihre Resistenz politisch zu artikulieren. Es ist bemerkenswert, dass die Wçrttemberger zwischen ihrer Loyalitåt zu Hitler und ihrer Einstellung zur Partei und deren regionalen Repråsentanten klar differenzierten. 30 In kirchlichen Angelegenheiten, nicht zuletzt dem Religionsunterricht, aber auch im Hinblick auf die Agrarpolitik des Regimes bestand eine eindeutige Opposition. Diese Teildistanzierung lieûe sich an anderen Regionen und Lokalstudien vielfåltig beståtigen. 31 Desgleichen ist das Ausmaû der Ûbereinstimmung mit der Politik des Regimes, von wenigen Hæhepunkten wie den Siegen çber Polen und Frankreich abgesehen, eher begrenzt. Es scheint daher angebracht, auf den Begriff der ¹Volksgemeinschaftª, der ja durch die Goebbels'sche Propaganda eingefårbt wurde, im analytischen Kontext zu verzichten. Einige Schritte weiter ging Gætz Aly in seinem kontrovers aufgenommenen Buch çber ¹Hitlers Volksstaatª. Ausgehend von der Einsicht, dass die Erfahrungen des kriegswirtschaftlichen Systems im Ersten Weltkrieg die von Hitler und seinen Gefolgsleuten eingeschlagene Strategie maûgebend beeinflusst habe, betont er die Bestrebungen des Regimes, sich durch ækonomische Konzessionen die Sympathien der lohnabhångigen Bevælkerung zu sichern. Es ist unbestreitbar, dass die NS-Fçhrungsgruppe gerade seit der Krise nach Stalingrad an der pseudosozialistischen Linie festhielt und sich gegen steuerliche Maûnahmen zu Ungunsten der unteren Bevælkerungsschichten wandte. Das sollte aber nicht zu der Ansicht fçhren, die NS-Sozialpolitik habe eine Einkommensumverteilung zugunsten der Unterschicht herbeigefçhrt, denn die Sozialpolitik des Regimes seit den 1930er Jahren hat trotz ihrer populistischen 30 Vgl. Jill Stevenson, Hitler's Home Front. Wçrttemberg under the Nazis, London 2006. 31 Exemplarisch: Hamburg im ¹Dritten Reichª, hrsg. von der Forschungsstelle fçr Zeitgeschichte in Hamburg, Gættingen 2005, darin vor allem Frank Bajohr, Die Zustimmungsdiktatur. Grundzçge nationalsozialistischer Herrschaft in Hamburg, S. 69±121.

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Zçge die Einkommensverhåltnisse der Unterschicht im Verhåltnis zur Lage von 1928 keineswegs verbessert. Neuere Untersuchungen zeigen, dass von einem durch die Politik des Regimes maûgeblich unterstçtzten ækonomischen Aufschwung trotz der Ûberwindung der Massenarbeitslosigkeit keine Rede sein kann. 32 Aly ist so weit gegangen, den Unterdrçckungscharakter des Regimes zu relativieren, und spricht von einer ¹Gefålligkeits-ª und ¹Zustimmungsdiktaturª. 33 Er stçtzt sich dabei auf die bis zum Beginn des Russlandkrieges gçnstig ausfallenden Meinungsumfragen. In seinem jçngsten Buch neigt er indessen dazu, diese Ergebnisse zu relativieren. 34 Wie weit die Bevælkerung die Politik des Regimes, die materiellen Belastungen im Kriege mæglichst niedrig zu halten, direkt und indirekt ± nicht zuletzt durch æffentliche Versteigerung jçdischen Wohnungs- und Haushaltseigentums, aber auch durch materielle Vorteile fçr Familien, deren Våter eingezogen waren ± mit dauerhafter Zustimmung honorierte, ist kaum verlåsslich zu bestimmen. 35 Indessen wird man schwerlich zu weit gehen, wenn man feststellt, dass der Begriff ¹Zustimmungsdiktaturª den Tatbestand verdeckt, dass die Loyalitåt groûer, aber abnehmender Teile der Bevælkerung in erster Linie durch den direkten und indirekten Unterdrçckungsapparat des Regimes und die Ausschaltung jeder freien Kommunikation bedingt war. Gerade in der Endphase des Krieges trat die massive terroristische Bedrohung auch der eigenen Bevælkerung offen zu Tage. Die verhångnisvolle Rolle der Justiz, die in den bei den Reichsverteidigungskommissaren 32 Vgl. Ludolf Herbst. Der totale Krieg und die Ordnung der Wirtschaft 1939±1943, Stuttgart 1982, S. 207 ff.; Christoph Buchheim/Jonas Scherner, Anmerkungen zum Wirtschaftssystem des ¹Dritten Reichsª, in: Werner Abelshauser u. a. (Hrsg.), Wirtschaftsordnung, Staat und Unternehmen. Neue Forschungen zur Wirtschaftsgeschichte des Nationalsozialismus, Essen 2003, S. 89±94; Christoph Buchheim, Unternehmen in Deutschland und NS-Regime 1933±1945, in: Historische Zeitschrift, 282 (2006), S. 351 ±390. 33 G. Aly (Anm. 29), S. 49, S. 333. 34 Vgl. Gætz Aly (Hrsg.), Volkes Stimme. Skepsis und Fçhrervertrauen im Nationalsozialismus, Frankfurt/ M. 2006, S. 130 ff. 35 Vgl. Frank Bajohr, ¹Arisierungª in Hamburg. Die Verdrångung der jçdischen Unternehmer 1933± 1945, Hamburg 1997.

eingesetzten Sondergerichten offenen Widerstand gegen die offizielle Durchhaltepolitik mit massiven Sanktionen bestrafte, und das Tåtigwerden von mehr oder weniger willkçrlich urteilenden Standgerichten verwandelten nun auch das Altreich in ein groûes Gefångnis. Sicherlich wirkte noch immer der HitlerKult nach, aber die lokalen und regionalen Parteifçhrer hielten sich nur noch mit der Androhung von Gewalt an der Macht. Der NS-Staat befand sich långst in der Auflæsung, bevor er unter den harten Schlågen der alliierten Armeen endgçltig zerfiel. Wåhrend sich Goebbels anschickte, die fçr den ¹Werwolfª in hastig geschaffenen Ausbildungslagern zusammengezogenen HJ-Jungen fçr die Aufgabe zu trainieren, die ¹nationalsozialistische Ideeª auch nach dem bevorstehenden militårischen Zusammenbruch fçr die kommende Generation am Leben zu erhalten, zerbræckelten die letzten Reste des Groûgermanischen Reiches. Die klågliche Rolle, die Hitler dabei spielte, tritt in dem Maûe, in dem sich das geschichtliche Interesse der Zusammenbruchphase zuwendet, immer mehr ins æffentliche Bewusstsein. Die æffentliche Ironisierung des Diktators, wie sie derzeit im Film und in den Medien hervortritt, scheint ein Indikator dafçr zu sein, dass die Erklårungskraft der Person, die bislang wenig hinterfragt wurde, allmåhlich schwindet. In diesem Zusammenhang wird man sich an die Mahnung Martin Broszats erinnern, nicht ¹von den riesenhaften Wirkungen auf die Ursåchlichkeit der Personª Hitlers zu schlieûen. 36 Dies gilt umso mehr angesichts der Notwendigkeit, die Geschichte des Nationalsozialismus in den internatonalen Zusammenhang zu stellen, was sich als zukçnftige Aufgabe der Forschung stellt, nachdem die Entwicklung in den von Deutschland im Zweiten Weltkrieg besetzten oder von ihm abhångigen Låndern inzwischen weitgehend erschlossen worden ist.

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Vgl. M. Broszat (Anm. 24), S, 122 f.

Harald Welzer

Die Deutschen und ihr ¹Drittes Reichª D

ie gesellschaftliche Wirklichkeit des ¹Dritten Reichesª wird gewæhnlich durch das Prisma des Holocaust betrachtet. Der aber war erst das Ergebnis eines dramatisch beschleunigten gesellschaftlichen Wandlungsprozesses, und der Alltag des Nationalsozialismus sieht im Blick durch dieses Prisma eigentçmlich statisch und hermetisch aus. Dabei vermochte die nationalsozialistische Gesellschaft eine un- Harald Welzer geheure psychosoziale Dr. phil., geb. 1958; SozialpsyEnergie und Dynamik chologe; Professor und Direktor bei ihren Mitgliedern des Center for Interdisciplinary gerade deshalb freizu- Memory Research am Kultursetzen, weil das ¹Tau- wissenschaftlichen Institut, sendjåhrige Reichª Postfach 102745, von den meisten Deut- 45027 Essen. schen als ein gemein- [email protected] sames Projekt empfunden wurde, an dem man teilhaben wollte und auch durfte, sofern man die rassisch definierten Kriterien dafçr erfçllte. Ausgerechnet diese Gesellschaft hat bis heute keine klaren mentalitåtsgeschichtlichen Konturen, was sich etwa anhand der in letzter Zeit intensiv diskutierten Frage zeigt, was die Deutschen vom Holocaust wussten und wie es um die Zustimmung zum Regime im Verlaufe seiner Herrschaft stand. Inzwischen zeichnet sich ab, dass diese Zustimmung in den Jahren nach 1933 bis zum Ûberfall auf die Sowjetunion kontinuierlich anwuchs, so dass es an der Zeit wåre, die gesellschaftliche Wirklichkeit des ¹Dritten Reichesª als ein soziales Parallelogramm zu beschreiben, in dem sich die emotionale und materielle Lage der nichtjçdischen Deutschen in dem Maûe verbesserte, wie sich die Situation der ¹Nichtarierª verschlechterte ± womit die Ausgrenzung der Juden, wie Peter Longerich argumentiert hat, nicht nur als Herrschaftszweck, APuZ 14 ± 15/2007

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